Deutschland, B-Junioren-Mecklenburg-Vorpommern-Pokal (2. Runde)
Samstag, 31. Oktober 2020, 10 Uhr
Schwerin, Sportplatz Großer Dreesch
Es ist 3.15 Uhr in der Nacht von Freitag auf Samstag. Das letzte Wochenende, an dem man in Deutschland Fußballspiele besuchen kann. Es wird eine wohl mehrmonatige Pause folgen, vielleicht sogar der Abbruch der Saison. Völlig klar: An diesem Wochenende muss um jeden Preis Fußball konsumiert werden. Dafür ist kein logistischer Aufwand zu hoch. Bloß ist die Planung jetzt noch komplizierter als in den vergangenen Tagen, auch wenn es da schon nicht gerade einfach war. Klar ist: In Westfalen, wo ich mich gerade aufhalte, wird es an diesem Wochenende keinen Fußball zu sehen geben, denn dort hat der FLVW die Saison freiwillig vorzeitig unterbrochen. Nach Hause nach Baden-Württemberg zu fahren macht ebenfalls keinen Sinn, denn da haben es alle drei Landesverbände gleichermaßen getan. Die wenigen Landesverbände, die noch spielen, befinden sich hauptsächlich im Osten der Republik, doch auch da werden Spiele im Akkord abgesagt. Plan A war, dieses letzte Wochenende in Berlin zu verbringen, wo mit fünf Spielen das fußballerische Programm sehr ergiebig erschien und ja auch kulturell immer genügend geboten wird. Als jedoch im Laufe des Abends und der Nacht vier dieser fünf geplanten Spiele abgesagt werden, wird dieser Plan wieder verworfen. Wenn die Absagen in solch einem Tempo eintrudeln, dann ist das ein klares Zeichen dafür, es besser sein zu lassen. Und so sitze ich in dieser Nacht um 3.15 Uhr immer noch vor dem Computermonitor und rätsel herum, wohin ich fahren soll. Es spricht dann alles für Mecklenburg-Vorpommern. Das einzige Bundesland, in dem ich noch weniger Grounds als in Bremen habe, in das ich also so gut wie nie komme. Absagen sind in Mecklenburg-Vorpommern nicht großflächig zu beobachten, zumal die dortigen Inzidenzwerte die niedrigsten in Deutschland sind. Am Samstag ist ein Doppler in Schwerin drin, am Sonntag sogar ein Dreier in Rostock. Letzteren verkneife ich mir aber, denn mehr als 24 Stunden im Voraus zu planen halte ich momentan für zu gewagt. Und dafür sind dann auch – zu meiner Überraschung – die Übernachtungspreise in Rostock zu hoch. Sinnvoller erscheint es mir, darauf zu hoffen, dass am Sonntag in Niedersachsen noch etwas drin ist, ansonsten wird ein letztes Mal meine Bielefelder Stammkneipe intensiv supportet – die kann es auch gut gebrauchen. Gesagt, getan, doch der Blick auf die Fahrpläne zeigt, dass nun Eile geboten ist: Um 4.24 Uhr fährt der Zug am Bielefelder Hauptbahnhof los, also in gut einer Stunde. Schlafen lohnt sich damit nicht mehr, dafür werden bei der Buchung auch so kurz vor der Abfahrt nur 17,60 Euro (mit Bahncard 25) fällig. Ein Glück, dass meine Bahncard in zwei Wochen ausläuft. Die Verlängerung kann ich mir sparen, zumindest in der Hinsicht kam der zweite Lockdown zu einem günstigen Zeitpunkt. Die fünfstündige Zugfahrt wird genutzt, um mir ein bisschen Wissen über Schwerin anzulesen. Die einzige der 16 Landeshauptstädte, in der ich noch nie war. Zu sehen bekomme ich von ihr aber zunächst nicht viel, denn es geht bereits in Schwerin-Mitte aus dem Zug und von dort mit der Straßenbahn in den Stadtteil Große Dreesch. Der war zu DDR-Zeiten das große Plattenbaugebiet von Schwerin und mit 62.000 Einwohnern auch der größte Stadtteil. Er wurde ab 1971 südlichen des Faulen Sees auf Ödland („Dreesch“) aus dem Boden gestampft und galt aufgrund des Blickes auf den Schweriner See, den Faulen See und die Altstadt als das schönste Plattenbauviertel der DDR. Nach der Wende blühte dem Großen Dreesch dennoch das gleiche Schicksal wie den anderen Plattenbauvierteln der DDR: Die Einwohnerzahl hat sich inzwischen mehr als halbiert. Wer kann, zieht weg – in Einfamilienhäuser, in Schwerins sanierte Altbauwohnungen oder in den Westen. Während des fünfminütigen Fußmarsches von der Straßenbahnhaltestelle bis zum Sportplatz der Großen Dreesch kommt man an gleich markanten Bauwerken von Schwerin vorbei: Die 1977 aufgestellte Skulptur „Willkommen in Schwerin“ im feinsten Sowjet-Stil und das Verlagsgebäude der 1946 gegründeten Schweriner Volkszeitung, die bis zur Wende als offizielles Parteiorgan die Stimme der SED im Nordosten der DDR war. Beide Bauwerke sind auch vom Sportplatz der Großen Dreesch aus gut zu sehen. Weniger gut zu sehen ist dafür das Spielfeld, denn es ist umgeben von einem Zaun, der bei manch einem bis auf Stirnhöhe reicht. Unerklärlich, wie man so etwas bauen kann. Man hätte den Zaun eigentlich auch komplett weglassen können, denn der heimische Burgsee-Verein spielt mit seiner ersten Mannschaft nur in der vorletzten Liga, die hier die Kreisliga Schwerin/Nordwestmecklenburg ist. Da darf man die Frage stellen, warum man das Spielfeld so hermetisch abriegelt. Ansonsten hat der Sportplatz der Großen Dreesch nichts zu bieten, auch wenn mich als Wessi das Ost-Flair eines solchen Sportplatzes und vor allem seines muffigen Vereinsheim durchaus anspricht. Hier ist die Zeit wirklich stehengeblieben. Dass auf einem Schild die E-Mail-Adresse des Vereins abgebildet ist, wirkt schon wie ein Fremdkörper. Dazu passt gut, dass von Corona überhaupt nichts zu merken ist: Keine Präsenzlisten, keiner trägt Maske, keine Schilder, die auf das Einhalten des Mindestabstands hinweisen. Wenn ich hier vorher angerufen und gefragt hätte, ob das Spiel überhaupt stattfindet, hätte man wohl nur mit schallendem Gelächter reagiert. Dabei trifft die B-Jugend des Burgsee-Vereins (by the way: was für ein geiler Vereinsname!) heute im Mecklenburg-Vorpommern-Pokal auf einen sehr namhaften Gegner, nämlich den jüngeren B-Jugend-Jahrgang von Hansa Rostock. Ein besseres Los kann man in diesem Wettbewerb nicht ziehen. Da ja wirklich ganz Mecklenburg-Vorpommern Hansa-Rostock-Gebiet ist und das auch ganz besonders für Schwerin gilt, wie ich schon anhand der vielen Aufkleber gesehen habe, ging ich von einer besseren Zuschauerkulisse aus, zumal das ja auch in Schwerin das letzte Wochenende ist, an dem man Fußball schauen kann. Dass es dann nur rund 30 Zuschauer sind, hätte ich nicht erwartet. Keine Überraschung ist dafür der Spielverlauf und der Hansa-Nachwuchs zieht mit einem klaren 10:0-Sieg in die dritte Pokalrunde ein. Ob die jemals ausgespielt wird, steht auf einem anderen Blatt Papier.