Deutschland, Landesklasse Thüringen – Staffel 3 (7.Liga)
Samstag, 18. Juni 2022, 15 Uhr
Suhl, Auestadion
In den vergangenen Tagen blieb das 9-Euro-Ticket bislang recht ungenutzt. Das wollen wir heute ändern und mal wieder eine längere Zugreise antreten. Ziel ist das legendäre Auestadion in Suhl. Und da es Mitte Juni ohnehin schwierig ist, mehr als ein Spiel pro Tag zu schauen, belassen wir es bei diesem einen Spiel und nutzen die Zeit, um die einst südlichste Bezirkshauptstadt der DDR etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch erst einmal muss man überhaupt zum Zug kommen und während meiner Zeit in Bielefeld hatte ich fast vergessen, was für ein wahnsinniger Scheißdreck der Stuttgarter Hauptbahnhof durch die Stuttgart-21-Bauarbeiten geworden ist (und noch auf Jahre bleiben wird). Die Gleise des Kopfbahnhofs sind inzwischen vom restlichen Bahnhof abgetrennt, so dass man auf dem Weg von der S- und U-Bahn zum Fernbahnhof nun einen weiten Bogen um die Baustelle herumlaufen muss. Diesen weiten Bogen hat der Volksmund bereits „Fernwanderweg“ getauft. Die DB-App veranschlagt für den Fußweg bei einem Umstieg eine Zeit von 14 Minuten. Insbesondere mit Gepäck eine Frechheit. Aber mit Stuttgart hat sich die DB ja gerade in Bezug auf Stuttgart 21 schon so manche Frechheit erlaubt. Im Zug nach Würzburg geht es dann jedoch ungewohnt ruhig zu. Zwar wird aufgrund des 9-Euro-Tickets für einem erhöhten Fahrgastaufkommen gewarnt, aber das tritt nicht ein. Seltsam, aber gut so. Gleiches gilt für den Zug von Würzburg nach Suhl und beinahe wirkt es so, als gebe es gar kein 9-Euro-Ticket. Auf das kleine Suhl (37.000 Einwohner) bin ich dann besonders gespannt, eben weil man so wenig über die Stadt weiß. Genau genommen verbinde ich mit ihr bislang nur diese völlig abgefuckte DDR-Anzeigentafel im Auestadion. Das nicht weit von der bayrischen Grenze entfernt gelegene Suhl war jahrhundertelang vom Bergbau geprägt und spielte selbst in der Region keine übergeordnete Rolle. Das etwa gleichgroße Meiningen und das deutlich größere Sonneberg waren da schon prägnanter. Das änderte sich, als die DDR 1952 die alten Länder auflöste und stattdessen 14 Bezirke bildete. Einer davon auch im Süden von Thüringen entstanden, der von seiner Einwohnerzahl her der kleinste der DDR war. Lange war jedoch unklar, was Hauptstadt dieses Bezirks werden sollte. So wirklich geeignet war nichts. Größte Stadt war Sonneberg, das der SED jedoch viel zu nah an Bayern lag. Eigentlich hätte es Meinungen werden sollen, das Hauptstadt des bis 1920 existierenden Herzogtums Sachsen-Meinungen war, eines der 25 Bundesstaaten des Deutschen Kaiserreichs. Dadurch wäre auch noch die gesamte Infrastruktur vorhanden gewesen, um Meiningen wieder zu einer Hauptstadt zu machen. Doch auch das wollte man in Ost-Berlin nicht, weil Meiningen durch seine Rolle als Hauptstadt noch zu bürgerlich und zu wenig industriell geprägt war. Die Wahl fiel damit auf Suhl – eine echte Notlösung. Der ohnehin abgelegenste Bezirk der DDR bekam damit eine nichtssagende Hauptstadt. Eine graue Maus für eine graue Maus. Der Volksmund nannte den Bezirk Suhl daher auch „SUHL – Sozialistisch Unterentwickeltes HinterLand“. Die SED-Führung wollte Suhl aber auch deshalb als Hauptstadt, weil man sich hier aufgrund der rückständigen Infrastruktur architektonisch austoben und „etwas Neues schaffen“ konnte. Im Klartext: Man konnte viel platt machen. Ergebnis ist das heutige Stadtbild von Suhl, das ich durchaus spannend finde: Fachwerkhäuser im Vordergrund, Plattenbauten im Hintergrund. Deutsches Hinterland meets DDR. Allerdings forderte dieser radikale Umbruch nach der Wende auch Opfer. Lag die Einwohnerzahl 1990 noch bei 55.000, ist sie nun auf 37.000 abgesunken. Der Bevölkerungsrückgang ist damit selbst für Ost-Verhältnisse überdurchschnittlich hoch. Was mich in Suhl aber besonders überrascht ist der Dialekt, weil der sich so ganz und gar nicht ostdeutsch anhört, sondern sehr an das benachbarte Franken erinnert. In Kombination mit diesem recht speziellen architektonischen Mix wähnt man sich da doch ein bisschen wie im falschen Film – und das meine ich nicht negativ. Umso besser passt da das Suhler Stadion im Stadtteil Aue II ins Bild. Zu DDR-Zeiten hieß es Sportpark der Freundschaft, nach der Wende wurde es nach dem Stadtteil benannt. 1905 wurde der 1.Suhler SV gegründet, der bis Ende des Zweiten Weltkriegs keine besondere Rolle gespielt hat, eben weil das bis dahin auch für Suhl als Stadt galt. Wie in der DDR üblich wurde der Verein in der Nachkriegszeit mehrfach umbenannt und erhielt 1974 schließlich den Namen BSG Motor Suhl, den er bis zur Wende behielt. Während Suhl als Stadt in der DDR gepusht wurde, galt das für den Fußball allerdings nicht und so gondelte der 1.Suhler SV lange Zeit zwischen 2. und 4.Liga. Suhl war damit die einzige Bezirkshauptstadt der DDR ohne Erstliga-Fußball – bis zum Jahr 1984. Dann gelang der grauen Maus doch noch der Aufstieg in die DDR-Oberliga, aus der der Verein aber nach nur einem Jahr wieder abstieg. Diese Chronik passt also sehr gut zu dieser Hauptstadt, die eigentlich keine ist. Nach der Wende nahm 1.Suhler SV wieder seinen alten Namen an und wurde sportlich nach unten durchgereicht. Und genau dazu passt eben auch wie angesprochen sehr gut das Stadion, das mit der alten Anzeigentafel und dem Sprecherturm seine beiden Highlights hat, die ein bisschen nach (sozialistischer) Hauptstadt aussehen, während der Rest doch eher Dorfsportplatz sind. Nun ja, das ist jetzt ein bisschen zu sehr zugespitzt, denn die acht Stufen machen dann doch ein bisschen mehr her als nur Dorfsportplatz. Keine Frage: Das macht absolut Spaß hier, wobei mich – wie wahrscheinlich jeden Hopper – insbesondere die alte Anzeigentafel völlig in ihren Bann zieht. Ein Wunder, dass das Teil noch funktioniert! Allerdings macht die Anzeigentafel anfangs ein paar Zicken und kann erst ein paar Minuten nach Anpfiff in Gang gebracht werden. Dass man sie trotz der Macken weiterhin laufen lässt, zeigt ja aber, dass auch die Einheimischen eine Freude an ihr haben. Die bringen mich mit ihrem Dialekt auch im Stadion zum Staunen, zumal hier manch einer sogar in Lederhose herumläuft. Umso weniger passt der Spruch, den ich eigentlich immer mit diesem Verein in Verbindung gebracht habe: „Selbst die Hools von Liverpool haben Angst vor Motor Suhl.“ Nein, weder hat man jemals ein Europapokalspiel bestritten noch ist das Fußballpublikum hier typisch ostdeutsch, sondern einfach nur total gemütlich unterwegs. Nach dem Spiel reicht die Zeit noch, um im Supermarkt ein paar lokale Biere zu kaufen und am Bahnhof den wohl bekanntesten Einwohner der Stadt zu treffen. Denn als ich am Anfang geschrieben habe, dass mir die Stadt nur durch seine Anzeigentafel im Stadion ein Begriff ist, stimmte das nicht ganz, denn es gibt noch den Internet-Star Denis Gashi („Moin, meine Kebabs“), der sich beinahe täglich dabei filmt, wie er einen Döner in Suhl isst. Mir ist der Typ nicht sonderlich sympathisch, aber man kennt ihn halt und bringt ihn mit Suhl in Verbindung. Dass er am ansonsten menschenleeren Suhler Bahnhof neben mir der einzige ist, der da in diesem Moment herumlungert, ist dann der letzte Aha-Effekt, den ich brauche, um zu sagen: Suhl ist anders, aber (oder vielleicht auch gerade deshalb) spannend.