Sonntag, 20. Oktober 2019, 18 Uhr
Budapest, Új Hidegkuti Nándor Stadion
Mit der legendären Straßenbahn-Linie 1 geht es nach kurzem Bier-Stopp an einem Penner-Kiosk von Pesterzsébet in den Stadtbezirk Józsefváros (Josefstadt). Legendär deshalb, weil die Linie 1 innerhalb von sieben Stationen an gleich drei großen Budapester Stadien hält: an der Üllői út von Ferencváros, am inzwischen nach Ferenc Puskás benannten Nationalstadion und am neuen Hidegkuti Nándor Stadion vom MTK. An jenem scheiden sich die Hopper-Geister, was schon damit anfängt, ob es sich bei dem Neubau im Vergleich zum alten Stadion um einen neuen Ground handelt, weil das Spielfeld um 90 Grad gedreht wurde. Für mich ist der Fall eindeutig: Kein neuer Ground, weil sich die Spielfelder beider Stadien trotz Drehung zu weiten Teilen überlappen. Konsequenterweise müsste man eine Prozent-Zahl festlegen, wie weit sich neue und alte Spielfläche überlappen dürfen, um einen neuen Ground zu zählen. Ansonsten wäre ja jeder Ascheplatz jedes zweite Wochenende ein neuer Ground, weil die dort vom Platzwart gezogenen Seitenlinien jedes Mal geringfügig anders verlaufen. Beim Új Hidegkuti Nándor Stadion (új = neu) ist die Diskussion für mich nun aber durch den erneuten Besuch eh hinfällig. Geplant war der eigentlich nicht, passt aber aufgrund der späten Anstoßzeit am Sonntag gut ins Programm. Um es gleich mal vorweg zu nehmen: Mir gefällt das neue Stadion sehr, sehr gut. Sicherlich, mit dem alten Hidegkuti Nándor Stadion ist eine weitere abgefuckte Bude von der Bildfläche verschwunden, aber der Nachfolger ist absolut kein Standardstadion von der Stange. Ein weiterer Vorteil: Die MTK-Ultras sind nun von der Haupt- auf die Gegengerade gezogen, so dass man hier endlich Heim- und Gästeblock gleichzeitig im Blick haben kann. Der MTK ist ein durchweg spezieller Verein und eines besonderen Blickes wert. Mit 23 Titeln ist er ungarischer Vize-Rekordmeister und zusammen mit Rekordmeister Ferencváros der einzige Verein, der in wirklich jeder Phase der bewegten ungarischen Geschichte Meistertitel gewann – also zu österreich-ungarischen Kaiserzeiten, in der Zwischenkriegsphase, in der kommunistischen Ära und auch nach der Wende. Dennoch hat der MTK kaum Fans. Das hängt mit dem Ruf zusammen, denn er gilt als Juden-Verein. Immer wieder hört man sogar, dass das M in MTK für Maccabi gestanden haben soll. Tatsächlich stand es schon bei der Gründung 1888 für Magyar (Ungarisch). Besonders aufgeheizt ist das Derby zwischen dem MTK und Ferencváros, bei dem die Fans des Rekordmeisters den MTK gerne mit „Vagon, vagon“-Rufen verhöhnen. Eine Anspielung auf die Waggons, in denen Spieler und Fans des MTK nach dem Einmarsch der Wehrmacht aufgrund des jüdischen Images nach Auschwitz deportiert wurden. Ebenso beliebt ist bei Ferencváros-Fans das Imitieren von Gänsegeschnatter, denn Gänse sind in Ungarn aufgrund ihrer langen Hälse eine abwertende Bezeichnung für Juden – eine Anspielung auf ihre angeblichen Wendehälse. Der Tagesspiegel hat 2001 darüber einen Artikel mit dem Titel „Blaue Gänse, grüne Adler“ verfasst, der hier nachzulesen ist. Umso kranker, dass der MTK auch selbst mit dieser Bezeichnung spielt und sich eine Gans zum Maskottchen gemacht hat. Sie ist auch auf der Heimfahne der MTK-Ultras abgebildet. Es soll wohl eine Art von Selbstironie sein, ich finde das aber ziemlich geschmacklos – nicht nur mit Blick auf die Geschichte, sondern auch auf die aktuelle Entwicklung Ungarns. Heute reicht es, den Blick auf die andere Ecke der Gegengerade zu richten, um daran erinnert zu werden, denn auch vor dem Gästeblock hängt wie in so vielen ungarischen Stadien die Szekler-Fahne. Die blaue Fahne mit dem gelben Quersrich sowie Sonne und Halbmond ist das Symbol der ungarischen Minderheit in Rumänien. Hinter ihr steckt die Forderung, die nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete zurückzuholen und Großungarn wieder herzustellen. Es ist ein bisschen so, als würden in deutschen Stadien Ostpreußen-Fahnen hängen. Der Unterschied: In Deutschland hat man sich (bis auf ein paar Ewiggestrige) mit den Gebietsverlusten aus dem Zweiten Weltkrieg arrangiert, in Ungarn dagegen sind breite Bevölkerungsteile noch nicht mal mit dem Ersten Weltkrieg durch. Dass dann da auch noch eine Gans durchs Bild rennt, die das jüdische Image des Vereins aufs Korn nehmen soll, wirkt einfach deplatziert. Große Pluspunkte hat der in überraschend großer Zahl erschienene Anhang aus dem Stadtbezirk Budafok schon vor dem Spiel nicht gewonnen, als er sich vor einer Kneipe am Stadion breitgemacht hat und dabei einige völlig besoffene Kameraden bei zufällig vorbeifahrenden Autos die Seitenspiegel abgetreten haben. Respekt zwar dafür, mit der derart viel Alkohol im Blut noch so gezielt zutreten zu können, aber asozialer geht es ja wirklich kaum noch. Dass keiner der betroffenen Autofahrer anhält und sich 40 Fußballfans entgegenstellt, ist auch klar. Und wenn wir schon beim Thema asozial sind: Finger weg vom Essen beim MTK! Meine Freundin fängt sich hier eine ziemlich böse Lebensmittelvergiftung ein, die in Deutschland bis zum Gesundheitsamt geht, wo schließlich anhand von Proben nachgewiesen wird, dass der MTK-Fraß vergammelt ist.