Freitag, 18. Oktober 2019, 19 Uhr
Budapest, BVSC Stadion
2010 wurde Viktor Orbán zum Ministerpräsidenten von Ungarn gewählt und seitdem hat sich in dem Land vieles verändert – auch der Fußball. Die Parlamentswahl vom April 2010 war ein politisches Erdbeben, Orbáns nationalkonservative Partei Fidesz (in Deutschland etwa mit der AfD zu vergleichen) holte 52 Prozent der Stimmen. Bezeichnend, dass Fidesz längst nicht das rechteste ist, was das ungarische Parteienspektrum zu bieten hat, und es tatsächlich gar nicht so wenige Ungarn gibt, denen Fidesz nicht rechts genug ist. So holte die ultra-rechte Jobbik-Partei bei den Wahlen 2010 satte 16 Prozent. Zuvor schaffte sie bei den Wahlen 2006 nicht einmal den Einzug ins Parlament. Das heißt: Mehr als zwei Drittel der Ungarn wählten 2010 ganz rechts oder ganz, ganz rechts. Ähnlich fielen die Wahlen 2014 und 2018 aus, wobei sich das rechte Wählerspektrum noch weiter in Richtung Jobbik verlagerte. 2018 fiel Fidesz auf 49 Prozent, Jobbik kletterte auf 19 Prozent. Mit der Magyar Gárda (ungarische Garde) unterhält Jobbik eine eigene paramilitärische Organisation ähnlich der SA und ist vor allem in den ländlichen Gebieten Ungarns stark, wo die Partei teilweise auch den Bürgermeister stellt. Die sorgen regelmäßig für Schlagzeilen, etwa weil sie von Sozialhilfe lebende Einwohner der Roma-Minderheit schikanieren und zu sinnlosen Arbeitseinsätzen zwingen. Da muss dann mal das Unkraut gejätet werden, aber dummerweise ist das Paket mit dem dafür notwendigen Werkzeug nicht aus Budapest angekommen, weshalb das alles mit den Händen gemacht werden muss. Orbán denkt dagegen in ganz anderen Dimensionen und hat dabei auch den Fußball fest im Blick. Den Verein aus seinem Heimatort Felcsút (ein Dorf mit 1.800 Einwohnern mitten im Nichts) hat er in die 1. Liga gepusht und dort kurzerhand ein modernes Stadion mit 4.500 Plätzen hingestellt. Der Zuschauerschnitt liegt hier übrigens bei 400. Bei allen anderen größeren Erstligisten sind ebenfalls moderne Neubauten entstanden, sofern sie – wie zum Beispiel Újpest – nicht ohnehin schon ein recht neues Stadion besaßen. Da werden Parallelen zu Erdogans Fußball-Türkei deutlich. Bei der widerspenstigsten aller Fanszenen, nämlich der von Ferencváros, wurde ein ganz perfides System eingeführt. Dort werden nun Iris und Venen gescannt, bevor man ins Stadion gehen darf. Aber nicht nur das ungarische Fußball-Oberhaus hat sich seit 2010 verändert, sondern auch die unterklassigen Ligen. Das bekommen wir heute beim BVSC im Budapester Stadtteil Zugló zu spüren. Mehrere Sicherheitsleute bei einem Viertligaspiel, die sogar die Handtaschen von Frauen durchsuchen – das gab es früher nicht. Und dennoch: Ein bisschen was von diesem Spirit, der Ungarn und seine Ultras vor 20 Jahren zu einem der interessantesten Adressen Europas gemacht hat, ist immer noch spürbar. Der Fall des Eisernen Vorhangs ließ hier bereits 1991 die ersten Gruppen entstehen. Maßgeblich war dafür wohl die relative Nähe zu Italien, vor allem aber der besondere nationale Charakter der Magyaren. Ungarn ist zwar fast nur von slawischen Nachbarn umgeben, selbst aber nicht slawisch, weshalb äußere Einflüsse schon immer ganz anders auf Ungarn gewirkt haben als auf seine Nachbarländer. Besonders lässt sich das an den Ultras festmachen, die gerade in den 90ern einen ganz krass italienischen Stil gefahren sind. Gruppennamen wie Nuova Guardia (Kispest), Armata Rossoblu (Vasas), Ultra Viola Bulldogs (Újpest), Mastiffs (Nyíregyháza), Viola Settore (Békéscsaba), Ultrà Partigiani Azzurri (Szeged), Ultras Uniti Rossoneri (Pécs), Irriducibili (Kaposvár) oder Gioventù (Ikarus) unterstreichen das mehr als deutlich. Und noch ein zweite Besonderheit ist in Ungarn festzustellen: die Vielzahl an kleinen Ultras-Gruppen in Budapest. In wohl keiner anderen europäischen Stadt gibt es so viele Vereine, die von Ultras unterstützt werden, wie in der ungarischen Hauptstadt: Die Erstligisten mit eingerechnet sind es über 20 Vereine mit Ultras (einen historischen Überblick gibt es hier). Budapest – das Buenos Aires Europas. Zwei dieser Vereine treffen heute Abend in der obersten Liga des Budapester Fußballverbandes aufeinander und bei beiden ist die Ultras-Szene noch aktiv. Beim BVSC Zugló sind das die 1995 gegründeten Blue Boys, die hinter ihrer uralten Fahne aber nur zu Beginn des Spiels auffallen, das Spiel ansonsten aber relativ still verfolgen. Vollen Einsatz zeigen dagegen die zwei (!) angereisten Ultras der Gäste. Vízművek heißt übersetzt Wasserwerk, es handelt sich also um die Betriebssportgemeinschaft der Budapester Wasserversorgung – ein Relikt der kommunistischen Ära Ungarns. Besonders pfiffig ist daher der Name dieser relativ jungen Gruppe, denn sie nennt sich Blue Waves. Abgeschirmt von drei Ordnern geben die zwei Ultras richtig Vollgas, was natürlich mitunter etwas skurril wirkt (insbesondere bei Schalparaden), aber wohl auch nicht immer ganz so ernst wirken soll. Ähnlich wie bei italienischen Ultras haben auch die ungarischen Ultras einen Hang zu Humor und Selbstironie – ein weiterer gravierender Unterschied zu den Ultras in den Nachbarländern. Die alten Zeiten leben also irgendwie noch einmal auf, aber das abgefuckte Stadion mit dieser genialen Architektur seiner Haupttribüne, die genauso abgefuckt ist wie das ganze Viertel, macht es einem auch sehr leicht, die Zeit gedanklich ein wenig zurückzustellen. Passend dazu ist die Zuschauerkulisse gewohnt mager. In der angrenzenden Schwimmhalle sind es beim parallel stattfindenden Wasserball-Heimspiel des BVSC Zugló doppelt so viele Zuschauer. Zwar ist Wasserball in Ungarn Volkssportart Nummer 3 hinter Fußball und Handball und der BVSC Zugló spielt dort in der 1. Liga. Aber umso verrückter wirkt es, dass dort gar keine Ordner präsent sind, während hier beim Fußball Sicherheitswahn herrscht.