Samstag, 13. Mai 2017, 17 Uhr
Montréal, Stade Saputo
Nach einer Woche USA geht es nun in
Kanada weiter. Das bedeutet auch: Von Englisch muss jetzt auf
Französisch umgeswitcht werden. Und das fängt schon bei der
Aussprache der Stadt Montréal an: Irrtümlicherweise hat sich im
Deutschen die englische Aussprache („Montrial“) durchgesetzt,
tatsächlich wird sie aber französisch („Mon-real“)
ausgesprochen. Deutlich wird das auch beim Ursprung des Stadtnamens,
denn „Mont“ ist das französische Wort für „Berg“. Konkret
geht es um den Mont Royal („Königsberg“), um den herum die Stadt
entstanden ist. Geographisch liegt Montréal ohnehin sehr reizvoll,
nämlich auf einer stolze 500 Quadratkilometer großen Insel – der
Île de Montréal („Montréal-Insel“) – im Sankt-Lorenz-Strom.
1,6 Millionen Menschen leben in Montréal, weitere 1,8 Millionen in
der banlieue. Damit war Montréal lange Zeit hinter Paris die
zweitgrößte französischsprachige Stadt der Welt, wurde inzwischen
aber von Kinshasa (Kongo) und Abidjan (Elfenbeinküste) auf Platz 4
verdrängt. Nach wie vor ist Montréal aber die mit Abstand größte
Stadt der Provinz Québec. Politisch erlebte die flachenmäßig
größte Provinz Kanadas bis vor Kurzem noch stürmische Zeiten, denn
sie ist mehrheitlich französischsprachig und strebte lange Zeit die
Unabhängigkeit von Kanada an. Hintergrund: Während die USA und
Kanada heute zu großen Teilen anglophon sind, überspannte die
französische Kolonie Neufrankreich bis 1763 weite Teile des
nordamerikanischen Kontinents. An Städtenamen wie New Orleans kann
man heute noch sehen, dass Frankreichs Einfluss einst bis zum Golf
von Mexiko gereicht hat. Mit dem Frieden von Paris 1763, der
Frankreichs Niederlage im sogenannten Siebenjährigen Krieg
besiegelte, musste Frankreich unter König Louis XV. seine Kolonien
in Nordamerika aufgeben. Lediglich der heutige US-Bundesstaat
Louisiana (auch hier sieht man am Namen den französischen Ursprung)
konnte knapp 40 Jahre später unter Napoleon noch einmal kurzfristig
zurückerobert werden. Mit dem Rückzug Frankreichs verschwand auch
die französische Sprache aus Nordamerika, einzig im äußersten
Nordosten – insbesondere in Québec – wehrt sie sich bis heute
erfolgreich und vehement gegen alle anglophonen Einflüsse. Das geht
so weit, dass in Québec sogar das Stop-Schild im Straßenverkehr ins
Französische übersetzt wird. Hier heißt es auf den roten,
achteckigen Schildern: arrêt! Doch nicht nur sprachlich, sondern
auch kulturell unterscheidet sich das noch immer sehr europäisch
geprägte Québec stark vom restlichen Kanada, weshalb man eigentlich
getrennte Wege gehen möchte. Befeuert wurde dieser innerkanadische
Konflikt lange Zeit von Frankreich, das die
Unabhängigkeitsbestrebungen Québecs offen unterstützt hat. Die
Geografie spielte der „grand nation“ dabei in die Karten, denn
tatsächlich hat ein winziger Teil Neufrankreichs den Pariser Frieden
von 1763 überlebt: die kahle, fast menschenleere und eigentlich
unbrauchbare Inselgruppe Saint-Pierre-et-Miquelon mit ihren nur 6.000
Einwohnern. Saint-Pierre-et-Miquelon liegt 25 Kilometer vor der
kanadischen Ostküste und ist nach wie vor französische Kolonie. Von
hier aus soll Frankreich insbesondere in den 60er- und 70er-Jahre
Propagandasender betrieben haben, die ins nahegelegene Québec
gestrahlt haben, um die dortige Bevölkerung für die Unabhängigkeit
zu mobilisieren. Zudem stationierte Frankreich in den 70er-Jahren
massiv Militär auf Saint-Pierre-et-Miquelon und provozierte damit
einen Konflikt mit dem anglophonen Teil Kanadas. Parallel dazu
gründete sich in Québec mit der FLQ (Front de libération du
Québec; Befreiungsfront Québecs) eine separatistische Bewegung, die
Dutzende Bombenanschläge in Kanada verübte. 1995 kam es dann zum
lange geforderten Referendum, bei dem die Separatisten jedoch denkbar
knapp scheiterten: 50,6 Prozent der Bevölkerung stimmen gegen die
Unabhängigkeit, nur 49,4 Prozent dafür. Wirklich für Ruhe sorgte
das knappe Ergebnis jedoch nicht, so dass sich die kanadische
Regierung 2006 auf einen Kompromiss einließ und Québec seither
zugesteht, eine eigene Nation innerhalb Kanadas zu sein (wodurch Königin Elisabeth II. weiter Staatsoberhaupt von Québec bleibt). Im Grunde
beschreibt das gut die Realität, denn wenn man durch Montréal
läuft, sieht man im Stadtbild wesentlich mehr Fahnen von Québec
(weißes Kreuz auf blauem Grund, dazu in jeder Ecke die französische
fleur de lis) als von Kanada wehen. Abgesehen davon hat man aber
nicht das Gefühl, dass es in der Stadt brodelt. Geografische Lage
und Klima sorgen allerdings für weitere Kuriositäten. Da wäre zum
Beispiel der eigene Kompass, den Montréal benutzt: Eigentlich dehnt
sich die Île de Montréal von West nach Nordost aus, doch sowohl
auf Stadtplänen als auch bei offiziellen Dokumenten wird die Karte
um 90 Grad gedreht, um die Insel besser darstellen zu können. Auch
die Bezeichnungen der durch Montréal führenden Highways, die in
Kanada immer eine Himmelsrichtung mit angeben, wurde an diese lokale
Besonderheit angepasst. Die Autoroute 40 Nord ist hier also die
Autoroute 40 Est. Man sagt daher auch, dass Montréal die einzige
Stadt der Welt ist, in der die Sonne im Süden aufgeht. Noch mehr
wird einem aber in Montréal auffallen, dass für eine Millionenstadt
recht wenige Fußgänger auf den Straßen unterwegs sind – und die
meist sehr sommerlich angezogen sind, obwohl am Sankt-Lorenz-Strom
immer ein kühler Wind bläst. Gerade wegen der klimatischen
Bedingungen, die vor allem im Winter sehr unangenehm sein können,
wurde ab den 60er-Jahren mit dem Bau der unterirdischen Stadt
begonnen. Heute ist das 32 Kilometer lange Tunnelsystem die größte
Untergrundstadt der Welt. Einfach erklärt sind mehrere
Métro-Stationen in der Innenstadt miteinander verbunden, so dass man
nicht nur auf Schienen, sondern auch zu Fuß von Station zu Station
kommt. Die Tunnel, die die Stationen verbinden, durchkreuzen mehrere
unterirdische, mehrgeschossige Einkaufzentrum. Aber auch zwei
Universtitäten, der Hauptbahnhof und das Eisstadion der Canadiens
befinden sich in der unterirdischen Stadt. Das klingt auf den ersten
Blick nach viel bunter Welt, es gibt aber auch lange, graue und
leblose Tunnel, die die einzelnen Waben miteinander verbinden. Da die
unterirdische Stadt wohltemperiert ist, kann man sich auch im Winter
die Jacke schenken, weshalb sich die meisten Bewohner Montréals auch
wegen dem fehlenden Autoverkehr lieber unter- als oberirdisch
fortbewegen. Nicht schenken kann man sich als Tourist hingegen einen
Stadtplan, denn natürlich fehlen unterirdisch die
Orientierungspunkte. Auf den Stadtplänen von Montréal, die
eigentlich dreidimensional sein müssten, ist die unterirdische Stadt
wie ein Schatten eingezeichnet, was für Hilfe sorgt. Dazu sind in
den einzelnen Waben Wegweiser angebracht. Bei so vielen Kuriositäten
wundert es nicht, dass auch der lokale Fußballverein eine
Sonderrolle einnimmt. Der Impact de Montréal FC wurde bereits 1993 –
also noch vor dem durch die USA-WM 1994 ausgelösten Fußball-Boom –
gegründet und spielt seit 2012 als eines von aktuell drei
kanadischen Teams in der US-amerikansichen MLS mit. Zuletzt war
Weltstar Didier Drogba bei Impact aktiv, der hier seine Karriere
beendete. Größter Erfolg des Vereins ist der Einzug ins
Champions-League-Finale in der Saison 2014/15, das jedoch gegen den
Club América aus Mexiko verloren wurde. Erwähnen muss man an dieser
Stelle, dass sich die kanadischen Mannschaften nicht über die MLS
für die Champions League qualifizieren können; dieses Recht ist
laut FIFA-Reglement allein den Teams aus den USA vorbehalten. Die
kanadischen MLS-Teams sowie die kanadischen Vertreter der NASL
(zweithöchste Liga der USA) spielen daher ein separates Turnier, bei
dem der kanadische Champions-League-Teilnehmer ermittelt wird. Dieses
Turnier findet dieser Tage statt und hätte sogar besucht werden
können, jedoch hätte die Fahrt ins zwei Zeitzonen entfernte
Edmonton den Reiseplan gehörig durcheinandergewirbelt. Also bleibt's
beim Spiel in Montréal. Da die Stadt und insbesondere ihr
historischer Stadtteil Vieux-Montréal mit seinen Paris
nachempfundenen Metro-Zugängen sehr europäisch geprägt ist,
wundert es nicht, dass die Impact-Fanszene wie eine französische
wirkt. Die sonst in der MLS für Stimmung sorgenden Latinos sucht man
hier vergeblich. Stattdessen: frankreich-typisch zwei getrennte
Kurven. Hinter einem Tor steht die etwas kleinere Gruppe 1642 MTL
(Montréal wurde 1642 gegründet), hinter dem anderen Tor geben die
bereits 2002 gegründeten Ultras Montréal den Ton an, die den Ruf
haben, die beste Gruppe Nordamerikas zu sein. Das mag zum einen daran
liegen, dass die Konkurrenz nicht allzu stark ist und eigentlich
niemanden in der MLS gibt, der diesen Ruf streitig machen könnte.
Tatsächlich aber hat man im erst 2008 eröffneten und damit das viel
zu große, direkt angrenzende Olympiastadion ablösenden Stade Saputo
(ganz uneigennützig benannt nach Club-Besitzer Emanuele Saputo und
seinem gleichnamigen, in Montréal ansässigen Molkereiunternehmen)
während der 90 Minuten das Gefühl, sich in einem französischen
Stadion zu befinden. Das liegt nicht nur an der Sprache, sondern auch
an den Melodien der Gesänge, die eins zu eins aus den französischen
Kurven übernommen wurden – und das mit zwar keiner bahnbrechenden,
aber doch akzeptablen Lautstärke. Für MLS-Verhältnisse ungewohnt
ist auch die kleine Choreo, die die Ultras Montréal in der zweiten
Halbzeit präsentieren: mit verschiedenenfarbigen Bändern wird die
Regenbogen-Fahne dargestellt, dazu ist auf einem großen Doppelhalt
der Spruch „contre l'homophobie“ („gegen Homophobie“) zu
lesen. Das trifft den Nerv der Stadt ganz gut, denn Montréal gilt
als eine der weltweit offensten Städte gegenüber Homosexualität.
Es gibt hier ein eigenes homosexuelles Viertel, auf dem offiziellen
Stadtplan sind zwei sich küssende Männer abgebildet. Während man
auf den Rängen also nicht das Gefühl hat, ein Spiel der MLS zu
sehen, ist das auf der andere Seite der Tribünen ganz anders, denn
auch hier wird das in der MLS übliche Show- und Fress-Programm zu
völlig überhöhten Preisen geboten. Geldautomaten in jeder Ecke,
hingegen einen Verkaufs- oder Infostand der Ultras Montréal sucht
man vergeblich. Das passt dann selbst in Montréal nicht ins
MLS-Bild.
Nationalgericht von Québec: Poutine (Pommes mit Käse und Bratensoße)
Die unterirdische Stadt: