Sonntag, 2. Februar 2020, 15 Uhr
Acireale, Stadio Tupparello
Teil II der Sizilien-Tour und natürlich geht es auch heute wieder mit dem Zug über die größte Insel des Mittelmeers. Es ist Sonntag und damit Hauptspieltag in Italien. Auch auf Sizilien hat man da die komplette Auswahl, ausnahmslos alle Spiele unterhalb der Serie C finden sonntags statt. Ursprünglich sollte am morgigen Montag das Serie-C-Topspiel zwischen Catania und Monopoli stattfinden, was in Kombination mit dem gestrigen Heimspiel von Trapani der Grund war, ausgerechnet an diesem Wochenende nach Sizilien zu fahren. Drei Spiele an drei aufeinanderfolgenden Tagen auf der Insel zu machen ist dank Italiens totaler Fokussierung auf den Sonntag schließlich eine echte Rarität. Letztendlich wird das Catania-Spiel aber doch auf den Sonntag verlegt, was beim genauen Blick auf den Kalender aber nicht wirklich überrascht, denn am 3. Februar beginnt in Catania alljährlich das dreitägige Festa di sant'Agata und da ist es nun wirklich nicht möglich, ein Heimspiel auszutragen. Bleiben wir zunächst aber beim Sonntag, der mich ebenfalls in die Provinz Catania führt. Acireale (52.000 Einwohner) liegt ein paar Kilometer nördlich von Catania am Meer und ist die Hauptstadt des sizilianischen Karnevals. Zudem entstanden hier die ersten sizilianischen Marionetten, für die heute die gesamte Insel sehr bekannt ist. Durch die Lage am Meer ist Acireale Anrainer der an der Ostküste entlangführenden Bahnstrecke Messsina-Catania-Siracusa und damit ideal mit dem Zug zu erreichen. Eine direkte Verbindung von Palermo gibt es aber nicht, man muss erst einmal bis Catania fahren. Für die 200 Kilometer braucht der Zug gut drei Stunden, was für sizilianische Verhältnisse wirklich schnell ist. Die Strecke führt nicht an der Küste entlang, sondern geht querfeldein durch das Inselinnere, das auf Sizilien auch nicht ganz uninteressant ist. Leider setzt die Staatsbahn auf dieser Strecke kein altes Wagenmaterial mit Flair ein, sondern eine moderne S-Bahn. Langweilig. Ein bisschen entschädigt dafür der Hauptbahnhof in Catania mit seiner Lage am Meer und den Blick auf die vorbeiziehenden Schiffe. Ähnlich geil gelegen ist Acireale, wo auch das Stadion nicht allzu weit von der Küste entfernt steht. Dank seiner Lage auf einem kleinen Plateau hat man dort das Meer von der Haupttribüne aus immer vor Augen, auch wenn das gar nicht so erwartet, wenn man sich das auf Google Maps anschaut, schließlich sind das doch noch ein paar Meter bis zum Wasser. Ebenfalls wird man Google Maps getäuscht was die Entfernung von Bahnhof und Stadion betrifft. Es sind nur 1.000 Meter Luftlinie, aber halt wirklich nur Luftlinie. Es gibt keinen direkten Fußweg, man muss erst in die Stadt hinein und das Stadion dann dank weiträumig abgesperrtem Gästeblock – mit Marsala ist heute ebenfalls ein sizilianischer Verein mit Ultras-Szene zu Gast – in der Form eines Schneckenhäuschens umrunden. Dauert eine gute halbe Stunde. Die abschüssige Lage des Bahnhofs macht sich somit nicht bezahlt. Man fragt sich sowieso, warum man den neuen Bahnhof so weit draußen gebaut hat. Der löste 1989 den alten Bahnhof ab, der heute eine Bar ist, an der man unweigerlich vorbeikommt, wenn man vom neuen Bahnhof in die Stadt läuft. Obwohl der neue Bahnhof an einer relativ gut frequentierten Strecke liegt, bietet sich hier wieder ein düsteres sizilianisches Bild. Nicht ganz so düster wie in Trapani, aber auch am Bahnhof von Acireale regieren der Siff und bröselnde Wände. Einen geöffneten Fahrkartenschalter gibt es genauso wenig wie einen funktionierenden Busanschluss an die Innenstadt. Oh, Sizilien... Glücklicherweise habe ich reichlich Zeit mitgebracht, so dass sich natürlich noch ein Spaziergang durch die Altstadt anbietet. Für sizilianische Verhältnisse ist Acireale unspektakulär, in Deutschland würde man dagegen von einer pittoresken Altstadt sprechen, der man einen Besuch abstatten sollte. Richtig viel Laune macht in jedem Fall das Stadion. Schon die Schmierereien auf dem Weg dorthin machen deutlich, dass man in Acireale in puncto Ultras durchaus etwas erwarten darf. Rund ums Stadion sind die Wände dann sogar voll mit richtig schönen Malereien, was in der Menge in Italien absolut nicht alltäglich ist. Die Laune steigen lässt auch der marode Zustand der überraschend großen Haupttribüne, auf der man wirklich aufpassen muss, wo man hintritt. Teilweise muss man über rostige Metallbrücken laufen, die leicht nachgeben. Der große Sport wurde hier von 1993 bis 1995 geboten, als Acireale in der Serie B spielte. Ansonsten ist der Verein eigentlich Dauergast in der Serie C, spielt seit 2010 aber nur noch in der Serie D und war zuvor aufgrund finanzieller Schwierigkeit sogar in die Promozione zwangsversetzt worden. Wer in den 70ern, 80en und 90ern in der Serie B und C gespielt hat, kann natürlich auf eine traditionsreiche Ultras-Geschichte zurückblicken. In den 70ern entstanden die ersten Gruppen in Acireale, von denen sich drei – Desperados, Eagles und Fedayn – 1988 zur Fossa dei Leoni (Höhle der Löwen) zusammenschlossen. 2008 wurde die Gruppe in der Phase des großen italienischen Gruppensterbens aufgelöst, doch bereits 2003 hatte sich mit Passione e Mentalità eine Gruppe von der Fossa dei Leoni abgespalten, die nach wie vor existiert und zumindest optisch die Curva Sud (Hauptkurve in Acireale) anführt. Parallel dazu hat sich in der gegenüberliegenden Curva Nord, in der auch der Gästeblock untergebracht ist, eine eigene Gruppenkultur entwickelt. Angeführt wird sie heute von der 2009 gegründeten Gruppe Seguaci Granata (weinrote Anhänger). Die Rollen sind dabei klar verteilt: Stimmungsmotor ist die Curve Sud, die der Curva Nord in so ziemlich allen Bereichen klar überlegen ist – Masse, Altersschnitt, Entwicklungsgrad. Was die Curva Sud da so an den Tag legt, ist schon ziemlich der Hammer, aber ehrlich gesagt erwarte ich so tief im Süden Italiens auch gar nichts anderes. Während im Norden die Melodien zwar geil, aber doch meist immer die gleichen sind, hört man im Süden viele Lieder, die (noch) Unikate sind. Die Lautstärke ist zwar nur Durchschnitt, aber das ist ja in Italien generell so. Gibt auf jeden Fall viel Gelegenheit zum Mitwippen, wenn man der Curva Sud zuhört, und allein schon dem stylischen Ü40-Capo bei der Arbeit zuzusehen, ist erste Sahne. Das habe ich gesucht, das finde ich hier. Ganz anders die Curva Nord, in der die Leute wesentlich jünger sind und die eigentlich nur dauerhaft den Gästeblock vollpöbeln. In den 90 Minuten Spielzeit wird effektiv 80 Minuten lang gegen Marsala gesungen. Und das, obwohl nur elf Gästefans da sind. Marsala (zugleich die italienische Bezeichnung für Marseille; auf Sizilien gibt es ja auch ein Barcellona) ist die westlichste Stadt Siziliens und damit stolze 350 Kilometer von Acireale entfernt. Von einem Derby kann man da nicht sprechen, dennoch sind sich beide Fanlager nicht grün – obwohl Marsala nun wirklich nicht die größte Szene hat. In der Vergangenheit kam es immer mal wieder zu Zwischenfällen, heute kann man das aufgrund des kleinen Mobs aus dem sizilianischen Marseille sicherlich ausschließen. Support gibt es im Gästeblock nur sporadisch, zu Spielbeginn wir einem Verstorbenen gedacht, dann recht dauerhaft in Richtung Curva Nord gepöbelt – natürlich mit dem typisch italienischen Auf- und Abbewegen der Arme. Grande! Es gibt sogar zwei, drei Leute im Gästeblock, die sich so hinstellen, dass sie gar nichts viel vom Spiel mitbekommen, sondern sich permanent in Richtung der Seguaci Granata drehen und gestikulieren. Mit verächtlichen Köperbewegungen, die ich so auch noch nie gesehen habe. Somit ein sehr unterhaltsamer Nachmittag.
Den Montag hatte ich mir ja eigentlich für das Heimspiel von Catania freigehalten, nun soll es aber das Festa di sant'Agata sein. Im erzkatholischen Italien wacht über jeden Ort ein bestimmter Heiliger als Schutzpatron. Der Vatikan hat jedem seiner Heiligen einen Tag im Kalender zuordnet und wenn dieser Tag kommt, dann feiert jeder Ort seinen Schutzheiligen mit einem großen Fest. In Catania ist natürlich die heilige Agatha von Catania die Schutzpatronin und weil wir hier im besonders katholischen Süden Italiens sind, dauert das Fest nicht nur einen, sondern gleich drei Tage. Agathas kirchlicher Gedenktag ist der 5. Februar, die Feierlichkeiten in Catania beginnen somit am 3. Februar. Gelebt haben soll die in Catania geborene Agatha im dritten Jahrhundert nach Christus und somit zu einer Zeit, in der sich das Christentum in Italien erst in seiner Ausbreitung befand. Die Christin Agatha soll sehr hübsch gewesen sein und dazu noch Jungfrau, weshalb Quintinianus, der damalige römische Statthalter von Sizilien, sie zur Frau nehmen wollte. Agatha weigerte sich, weil Quintinianus kein Christ war und sie doch ihre Jungfräulichkeit Gott versprochen hatte, woraufhin sie der zornige Statthalter einen Monat lang als Hure in Catania anschaffen ließ. Auch nach diesem Monat weigerte sich Agatha, Quintinianus zu heiraten, der ihr daraufhin zunächst die Brüste abschneiden ließ und sie dann auf glühender Kohle hinrichten ließ. Ein Jahr nach Agathas Tod brach der vor Catania liegende Ätna aus, dessen Lava auf die Stadt zurollte. Die Bürger von Catania betrachteten dies als Gottes Strafe für den Mord an Agatha und legten ihren Leichnam vor den Lavastrom, der direkt vor ihr erloschen sein soll. Seither wird Agatha als Schutzpatronin von Catania verehrt, für die katholische Kirche ist sie aber auch die Schutzheilige der Glocken- und Erzgießer, Goldschmiede und Feuerwehren und soll bei Erdbeben und natürlich Vulkanausbrüchen Wunder vollbringen. An Agathas Schicksal lehnt sich auch die kulinarische Spezialität von Catania ab: Agatha-Brüstchen. Diese Süßspeise hat die Form von weiblichen Brüsten und soll daran erinnern, dass Quintinianus Agatha die Brüste abschneiden ließ. Schmeckt zwar lecker, ist aber auch ein bisschen ekelhaft, wenn man weiß, warum die so heißen und so aussehen. Vom 3. bis zum 5. Februar ist Catania dann alljährlich völlig im Agatha-Rausch: Die ganze Stadt mit ihren 300.000 Einwohnern ist auf den Beinen, hinzu kommen Tausende Besucher aus ganz Italien. Ausnahmezustand. An fast jedem Haus hängt eine weinrote Flagge mit einem großen A darauf, Stände mit Süßkram werden überall in der Innenstadt aufgestellt, vor der großen Kathedrale bereiten Dutzende Pyrotechniker stundenlang das imposante Feuerwerk vor. Bis das in die Luft geht, bleibt noch ein ganzer Tag Zeit, um Catania zu entdecken – und die Zeit ist wirklich gut investiert. Es fängt schon mal damit an, dass die Ultras hier sehr gut im Stadtbild presente sind. Ursprünglich ging ich ja davon aus, heute Abend noch ein Heimspiel von Catania Calcio zu sehen, weshalb ich mir eine Unterkunft in Stadionnähe gebucht hatte. Dort gibt es kaum eine Hauswand, an der sich die Ultras nicht verewigt haben, darunter auch markige Sprüche wie „piombo sugli sbirri“ (Blei auf die Bullen). Mit Blick auf den Polizisten Filippo Raciti, der 2007 beim Derby zwischen Catania und Palermo auf immer noch ungeklärte Weise ums Leben kam, haben solche Sprüche natürlich einen besonderen Beigeschmack. In der Innenstadt präsentiert sich Catania dagegen als angestaubte Schönheit. Typisch italienische, aber auch sizilianisch ärmlich wirkende Altstadtgassen, durchzogen von der prachtvollen Via Etnea, die genau auf den Ätna zuläuft, ein vermüllter Fischmarkt, auf dem am Morgen noch die frischen Fänge gehandelt wurden, pompöse Palazzi und noch ganz, ganz viel Antike mit unter anderem gleich zwei Amphitheatern. Die Antike war es auch, die Catania das Stadtwappen und Catania Calcio das Vereinswappen gab: der Elefant. Im 18. Jahrhundert entdeckte man bei Ausgrabungen zufällig eine Elefanten-Figur, die in der Antike aus Lavastein des Ätnas gefertigt wurde und vermutlich Teil des römischen Hippodroms des antiken Catanias war. Der berühmte Architekt Giovanni Vaccarini, der der Stadt im 18. Jahrhundert mit vielen Bauwerken seine Handschrift verpasst hat, integrierte die schwarze Elefanten-Figur als zentrales Element beim Bau eines Brunnens, den vor die große Kathedrale setzte. Ein Second-Hand-Denkmal. Der exotische Elefantenbrunnen kam bei der Bevölkerung aber so gut an, dass er zum Wahrzeichen zum Catania und der Elefant zum Wappen der Stadt wurde. Heute ist der Elefantenbrunnen schon seit den frühen Morgenstunden von Schaulustigen besetzt, denn er bietet beste Sicht auf das Feuerwerk, das am Abend über dem völlig überfüllten Platz vor der Kathedrale erleuchtet. Ganz italien-mäßig wird dort zunächst ein längeres Opernkonzert geboten und wieder einmal muss ich mich wundern, wie textsicher die Italiener sind. Die fahren völlig auf diese Musik voll ab und als der letzte Ton erklingt, haben wirklich mehrere Leute Tränen in den Augen. Ähnlich pompös ist das darauffolgende Feuerwerk, was mit Blick auf die umfangreichen Aufbauarbeiten aber nicht wundert. Da werden so einige Tausender in die Luft geballert. Tränen in Augen hat übrigens auch meine Herbergsmutter, als ich ihr am nächsten Morgen am Frühstückstisch erzähle, dass ich mir das Feuerwerk vor der Kathedrale live angeschaut hatte. Sie nimmt mich in den Arm und dankt mir, dass ich dort war und damit Catania und seiner Agatha die Ehre erwiesen habe. Ich glaube, damit ist ganz gut auf den Punkt gebracht, wie die Menschen hier ticken und was für ein Wahnsinn bei diesem dreitägigen Fest abgeht. Man stelle sich vor, nach dem Hafengeburtstag am Hamburger Hauptbahnhof einfach mal in den Arm genommen zu werden... Dass Catania während des Agatha-Festes völlig auf dem Kopf steht, wird mir dann aber doch noch zum Verhängnis, denn am Dienstagnachmittag – zweiter Tag des Festes – geht mein Flug nach Stuttgart. Eigentlich ist das hier ganz gut gelöst, denn es gibt einen Shuttlebus zum Flughafen, der an mehreren Punkten in der Stadt abfährt. Während des Agatha-Festes ist jedoch der gesamte Busverkehr in der Innenstadt außer Betrieb, ohnehin sind viele Straße gesperrt, weil bis zu 200.000 Leute auf den Beinen sind. Notgedrungen muss man also zwei, drei Kilometer durch die Menschenmassen hindurch in Richtung Stadtgrenze laufen, bis wohin ein Ersatz-Shuttlebus fährt. Mit meinem Rucksack geht das ganz gut, ein paar anderen Touristen mit Rollkoffern ist der Frust aber deutlich im Gesicht anzusehen. Sizilien ist halt auch in diesem Punkt nicht Rom oder Mailand – aber wirklich eine Reise wert!
Catania
Festa di sant'Agata