Samstag, 18. Januar 2020, 19 Uhr
Milano, Stadio del Ghiaccio Agorà
Ghiaccio (Eishockey) ist in Italien etwas, das sich hauptsächlich in Südtirol abspielt. Sozusagen der FC Bayern des italienischen Eishockeys ist der HC Bolzano, der als einziger Verein an der deutlich finanzstärkeren österreichischen Liga teilnimmt, bei der auch Teams aus Ungarn und Tschechien dabei sind sowie bis vor Kurzem auch Kroatien und Slowenien. Höchste rein italienische Eishockey-Liga ist die Serie A, die mit nur sieben teilnehmenden Vereinen sehr übersichtlich ist. Vier davon kommen aus Südtirol, die anderen drei aus typischen Wintersportorten wie Cortina d'Ampezzo (Austragungsort der Olympischen Spiele 1956 sowie dann 2026). Rekordmeister ist mit 19 Titeln der HC Bolzano. Seit seinem Wechsel in die österreichische Liga dominiert der SC Ritten aus Südtirol die Serie A, der in den vergangenen sechs Jahren fünfmal italienischer Meister wurde. Die Teams der Serie A nehmen zusätzlich an der Alps Hockey League teil, die sozusagen Österreichs 2. Liga ist. An ihr nehmen Vereine aus Österreich (darunter auch zweite Mannschaften), Italien und Slowenien teil. Zweithöchste italienische Liga ist die Serie B, die seit der Saison 2017/18 Italian Hockey League (IHL) heißt – die Amerikanisierung schreitet auch im Ghiaccio voran. Auch in der IHL dominieren die Südtiroler Vereine, die fünf der elf Liga-Teilnehmer stellen. Die dritte und zugleich unterste Liga nennt sich IHL Division 1. Sie ist in eine Ost- und eine West-Staffel aufgegliedert. Die Ost-Staffel ist ein Mix aus kleinen Südtiroler Vereinen, zweiten Mannschaften der großen Südtiroler Vereine (aktuell auch der HC Bolzano II, der ja ansonsten gar nicht mehr am italienischen Spielbetrieb teilnimmt) und Teams aus kleineren Wintersportorten außerhalb Südtirols. Die West-Staffel hat dagegen einen ganz anderen Charakter – keine Südtiroler Vereine, dafür mischen die Metropolen Mailand und Turin mit. Speziell Mailand ist einen Blick wert: Mit dem HC Milano Vipers gab es hier einen Verein, der die Südtiroler Phalanx phasenweise durchbrechen konnte und von 2002 bis 2006 fünfmal in Folge italienischer Meister wurde. Das wurde natürlich ermöglicht durch haufenweise Kohle, die in den Kader gepumpt wurde, womit sich der Verein finanziell komplett übernahm. 2008 folgte die Insolvenz, aber auch die Neugründung unter dem Namen Hockey Milano Rossoblu (Rossoblu = Rot-Blau), womit man die Farben des HC Milano aufgriff. Nach der Neugründung pendelte der Verein zwischen der Serie A und B, war aber weiterhin immer mal wieder für einen Skandal gut. Dennoch: In der vergangenen Saison wurde Hockey Milano Rossoblu als Zweitligist in die österreichische Alps Hockey League aufgenommen. Ein Privileg, das sonst nur den Serie-A-Teams zukommt. Doch man ahnt es bereits: Die Mailänder hatten sich damit erneut finanziell übernommen. Konsequenz: Lizenzentzug für die Alps Hockey League und obendrauf in Italien die Rückversetzung in die IHL Division 1, also die unterste Liga. Wird höchste Zeit, diesem Chaos-Club mal einen Besuch abzustatten. Interessant vor allem deshalb, weil es in Italien neben Fußball nicht nur Ultras beim Basketball und Volleyball gibt, sondern auch beim Eishockey – und da besitzt Mailand einen sehr guten Ruf. Die Struktur der Kurve unterscheidet sich von den anderen italienischen Ghiaccio-Ultras. Bei den großen Vereinen aus Südtirol und aus den traditionellen italienischen Wintersportorten wurden die ersten Gruppen bereits in den 1970er-Jahren gegründet. Erste Eishockey-Gruppe Italiens waren die Fedayn Bolzano 1976 vom HC Bolzano. Sie lösten sich zwar 1991 offiziell auf, doch bis heute tritt die Kurve in Bozen mit dem gleichen Schriftzug der Fedayn unter dem Namen Figli di Bolzano (Söhne von Bozen) auf. Die zweite starke Gruppe aus Südtirol war das Commando Yankees Curva Sud vom HC Merano, gegründet Anfang der 1980er-Jahre, inzwischen aber auch aufgelöst. Weitere nennenswerte alte Gruppen sind die Ultras Perzen 1982 vom HC Pergine, die Gioventú Giallonera 1984 vom HC Varese (womit in Varese mit seinen nur 80.000 Einwohnern Ultras beim Fußball, Basketball und Eishockey aktiv sind!) und Alcool 1984 vom HC Chiavenna. Diese Ultras sind in der Regel nur beim Eishockey aktiv und unterstützen keinen Fußballverein aktiv. Die Mailänder Ghiaccio-Kurve ist dagegen deutlich jünger, zumal der HC Milano erst 1985 gegründet wurde und 1988 erstmals in die Serie A aufstieg. Über die Eishockey-Kurve sagt man, dass in ihr Fußball-Stadionverbotler aktiv sind – und zwar von Milan und Inter gemeinsam. Vor allem sie sollen die Kurve in den vergangenen Jahren stark gemacht haben. Soweit mein Kenntnisstand vor diesem Spiel. Was mich tatsächlich in der nahe der Mailänder Messe gelegenen Agorà-Halle erwartet und ob die Ultras nach dem Zwangsabstieg in die unterste Liga überhaupt noch aktiv sind – keine Ahnung! Das Umfeld der Agorà-Halle lässt die Erwartungen aber schon mal richtig ansteigen: In jeder Ecke Schmierereien der Curva di Milano (CdM), wie sich der Zusammenschluss der Mailänder Ghiaccio-Ultras nennt. Schon von außen erkennt man, dass die Halle völlig heruntergekommen ist, und zur Krönung steht vor ihr ein surrender Food Truck, der wie bei großen Fußballspielen Bier und Panini an den Mann bringt. Noch überraschter bin ich, wie man hier mit dem Thema Sicherheit umgeht. Keine Polizei, keine Carabinieri, nur ein einziger Ordner ist im Einsatz. Der steht bloß gelangweilt vor dem Zugang zu den Umkleidekabinen und passt auf, dass lediglich Spieler an ihm vorbeilaufen. Der Eintritt ist frei, die Tore zur Halle stehen offen und man kann einfach ohne jede Kontrolle hineinspazieren. Auch das Innere der Halle ist baulich in einem völlig desolaten Zustand: Das Dach ist undicht und der hereintropfende Regen hat eine schmierige Pampe über die oberen Sitzreihen gelegt. Das sieht hier so gar nicht nach der schillernden Modehauptstadt Mailand aus. Es sind also alle Zutaten für einen genialen Abend vorhanden – und nach und nach treffen endlich die Köche ein. Die Kurve füllt sich nur langsam und mit Spielbeginn stehen nur etwa 50 Ultras hinter einer großen „Curva Milano“-Fahne. Die Zahl wächst dann aber auf rund 300 Ultras an. Ob das nun wirklich überwiegend Diffidati von Milan und Inter sind, kann ich nicht sagen. Wohl aber lässt sich viel an der Gestaltung der Hauptzaunfahne ablesen. Auf ihr sind nämlich die beiden Symbole der Stadt Mailand abgebildet: Rechts das rote Kreuz auf weißem Hintergrund, das das Stadtwappen darstellt und im Vereinswappen von Milan aufgegriffen wird. Links dagegen die Biscione, die Grasschlange, ebenfalls ein Mailänder Stadtsymbol und das historische Wappen von Inter. Es scheint also wahr zu sein, dass Ultras von Milan und Inter vereint hinter dem HC Milano und seinem Nachfolgeverein stehen. Auffallend: In den Liedern wird sehr oft von den Vipers gesungen, also der alte, amerikanisierte Namenszusatz des HC Milano verwendet. 2000 nahm der Verein den Zusatz Vipers an, als er eine Kooperation mit dem Eishockey-Verein aus Cortina d'Ampezzo beendete, wegen der er 1998 sogar in die französische Liga wechselte. Unter dem Namen Vipers folgten die Rückkehr nach Italien und die fünf Meistertitel in Folge. Anhand dieser starken Identifikation mit den Vipers lässt sich sehr gut datieren, wann die Kurve hier zu wachsen begann – zwischen 2000 und 2008, der erfolgreichsten Zeit des Vereins. Diese sind zwar nun vorbei, dennoch wird hier heute knapp zwei Stunden lang etwas abgezogen, was mich ganz stark an Ambrì erinnert. Sicher, alles eine Nummer kleiner als in der Valascia, aber dafür auch italienischer. Ein bisschen wie früher beim Fußball. Da ich ohne Erwartungen in die Agorà-Halle gekommen bin, bin ich natürlich umso mehr geflasht. Bierstand ist ebenfalls vorhanden, hier fühlt man sich wohl. Trotz Hallendach wird in der Kurve auch kräftig gefackelt und da in der maroden Bude der Abzug nicht funktioniert, kann man das Spiel schon ab dem zweiten Drittel nur noch durch eine leichte Rauchwand hindurch anschauen. Ehrensache, dass das Spiel ganz normal weiterläuft. Kräftig in die Hose geht lediglich die Choreo, die die Kurve zu Beginn des zweiten Drittels zeigt. Drei Blockfahnen werden hochgezogen, die den Schriftzug HCM ergeben sollen. Leider werden die Fahnen durcheinandergebracht, so dass MCH zu lesen ist. Bitter. Neben der Hauptkurve gibt es in der Halle übrigens noch zwei weitere Bereiche, in denen aktive Fans stehen: Auf der Gegengerade hat die Curvetta Rossoblu (rot-blaues Kürvchen) mit etwa zehn älteren Leuten Stellung bezogen, die sich hin und wieder am Support beteiligen, und neben dem Gästeblock stehen zehn Ü40-Ultras mit sportlicher Statur, die aber zumindest heute keinen Konflikt suchen. Ende des ersten Drittels treffen auch die Gäste aus Aosta ein. Das schwer zugängliche Aostatal ist sowohl einwohner- als auch flächenmäßig die kleinste Region Italiens. Sie liegt im Dreiländereck mit Frankreich und der Schweiz, quasi rund um den Mont Blanc, Europas höchsten Berg. Ähnlich wie Südtirol ist das Aostatal zweisprachig: Italienisch und Französisch sind gleichbedeutend Amtssprache. Beim Fußball ist im Aostatal nichts los, wovon ich mich bei einem Besuch im Mai 2015 überzeugen durfte (siehe hier). Anders sieht es im Ghiaccio aus, wo immerhin eine kleine Ultras-Szene existiert. Neun Leute haben die knapp 200 Kilometer lange Reise nach Mailand angetreten. Ob auf Italienisch oder Französisch gesungen wird, kann ich nicht sagen, denn die Gäste singen heute kein einziges Mal und schauen einfach nur hinter ihrer Zaunfahne stumm das Spiel an. Zwischen den sportlichen Ü40-Jungs und dem Gästeblock steht kein Zaun, aber vorsorglich haben die Gäste gleich nach ihrer Ankunft den Typen mal ein paar Bierchen in die Hand gedrückt. Was für ein Abend!