Sonntag, 26. Januar 2020, 11 Uhr
Bielefeld, Sportplatz Travestraße – B-Platz
Die Sennestadt ist eine Großwohnsiedlung am äußersten Rand von Bielefeld, die in den 1950er- und 1960er-Jahren hochgezogen wurde, um vor allem Flüchtlingen aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien eine neue Heimat zu bieten. Bielefeld nahm nach dem Zweiten Weltkrieg überdurchschnittlich viele Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten auf, wodurch die Einwohnerzahl in den 1950er-Jahren auf einen Schlag von 100.000 auf 170.000 stieg. Mehr als ein Drittel der damaligen Einwohner von Bielefeld waren also Flüchtlinge. Auch meine Großeltern gehörten übrigens dazu. Für die Flüchtlinge wurden an mehreren Stellen der Stadt monotone Wohnblöcke hingestellt, mit der Sennestadt entstand jedoch quasi über Nacht gleich ein ganz neuer Stadtteil für sie. Vor dem Zweiten Weltkrieg befand sich hier nur ein kleiner Ort namens Senne 2. Der Ursprung des kuriosen Ortsnamens: Nachdem die Preußen im Jahr 1813 Westfalen von Napoleon zurückeroberten, fingen sie an, mit preußisch-kühler Ordnungsliebe die kleinen Orte in der Sennelandschaft vor Bielefeld einfach durchzunummerieren. Diese Namen wurden bis nach dem Zweiten Weltkrieg beibehalten und änderten sich erst mit dem Bau der Sennestadt. Senne 2 wurde dann in Sennestadt umbenannt, Senne 1 zu Senne. Da der Fußballverein in Senne 1 bereits 1908 gegründet wurde, verwendete er natürlich den alten Namen des Ortes, der damals noch so hieß, änderte den Vereinsnamen bis heute nicht und heißt damit weiterhin TuS Senne 1. Wieder mal ein Beispiel dafür, dass man anhand des Fußballs Stadtgeschichte ablesen kann. Die Sennestadt ist heute nicht nur aufgrund ihrer abgeschiedenen Lage wie eine Stadt in der Stadt. So ist der Stadtteil trotz seiner 21.000 Einwohner bis heute nicht an das Bielefelder Straßenbahnnetz angeschlossen. Das endet seit 1912 in Senne 1, von wo aus man dann umständlich mit dem Bus in die Sennestadt fahren muss. Auch ein Grund, warum man den abgelegenen Stadtteil im restlichen Bielefeld kaum wahrnimmt. Mir selbst geht es da nicht anders: Obwohl ich die ersten 13 Jahre meines Lebens vornehmlich in Bielefeld verbracht habe und ich in letzter Zeit wieder viel hier bin, war ich noch nie in der Sennestadt. Gerade mit Blick auf den Fußball wird es nun aber höchste Eisenbahn, denn es existieren hier gleich drei Vereine. Auch in dieser Hinsicht ist die Sennestadt eben eine Stadt in der Stadt. Ältester Verein sind die Sportfreunde Sennestadt, die sogar älter sind als die eigentliche Sennestadt. Gegründet wurden sie 1945 unter dem Namen TuS Senne 2, womit dann auch klar ist, warum der TuS Senne 1 weiterhin an der Nummerierung festhält – Verwechslungsgefahr ansonsten ganz klar gegeben. Da diese Verwechslungsgefahr aber auch schon damals bestand, nannte sich der TuS Senne 2 recht schnell in Sportfreunde Senne 2 um und nahm mit dem Bau der Sennestadt schließlich seinen heutigen Namen an. 1981 kam mit den Kickers Sennestadt ein weiterer Verein im Stadtteil hinzu, 2008 mit Türkgücü Sennestadt der dritte. Alle drei spielen an der Travestraße, wo zwei Plätze existieren – der A-Platz und der B-Platz. Mein erster Besuch der Sennestadt ist dann heute Morgen zwar kein Kulturschock, aber man schaut doch sehr gespannt aus dem Busfenster. Der Stadtteil wurde als Planstadt gemäß den Vorstellungen der 1950er-Jahre angelegt: Autofreundlich, Wohnblock an Wohnblock, viele Grünflächen. Das sieht hier definitiv nicht nach Bielefeld aus. Beim Bau der Sennestadt wurde zudem ein damals als innovativ geltendes Verkehrskonzept umgesetzt: Es wurden keine rechtwinkligen Straßen gebaut, Straßen münden über leichte Kurven in übergeordnete Straßen ein, wie die Verästelungen eines Blattes. Auf Ampeln und Vorfahrtsregelungen wurde verzichtet – der Verkehr sollte sich intuitiv von alleine regeln. Das galt damals als derart bahnbrechend, dass es die Sennestadt sogar als Motiv auf eine Briefmarke der österreichischen Post geschafft hatte. Natürlich wurden inzwischen längst Verkehrszeichen aufgestellt und es gilt die deutsche Straßeverkehrsordnung in der Sennestadt. Zur Abgeschiedenheit des Stadtteils trägt bei, dass er als damals innovativ geltende Planstadt so angelegt wurde, dass er sich selbst versorgen kann und man das restliche Bielefeld eigentlich gar nicht benötigt. Das funktionierte nicht wirklich und in Verbindung mit dem fehlenden Straßenbahnanschluss hat man heute einen Stadtteil, in dem eigentlich keiner wohnen möchte. Seit den 1970er-Jahren sinkt die Einwohnerzahl kontinuierlich. Die Folge: billige Mieten und eine entsprechende Einwohnerstruktur. Die Sportfreunde Sennestadt III scheinen da einen guten Querschnitt des Stadtteils zu repräsentieren, denn hauptsächlich stehen da heute Migranten auf dem Platz – obwohl es hier mit Türkgücü ja auch einen reinen Migrantenverein gibt. Die Wahl des Testspielgegners für den heutigen Vormittag wirkt da umso überraschender, denn es ist der Polizeisportverein aus dem Stukenbrocker Stadtteil Senne (die Sennelandschaft zieht sich von Bielefeld bis Paderborn; in ihr sind mehrere Orte nach der Senne benannt, was die Preußen damals wie gesagt zur Durchnummerierung zwang). Heißt also: Fußballspielende Bullen, deren Trikotsponsor auch noch jene Sicherheitsfirma ist, die die Ordner bei Heimspielen von Arminia Bielefeld stellt, kicken gegen Migrantenkids aus Wohnblocks eines abgehängten Stadtteils – das birgt auf den ersten Blick viel Konfliktpotenzial. Doch die Sportfreunde klären die Angelegenheit sportlich und schicken die Polizisten mit 4:0 nach Hause.