Samstag, 18. März 2017, 14.30 Uhr
Tunis, Stade La Soukra
Wer glaubt, man könne in Tunesien
einfach so ein stinknormales Drittligaspiel besuchen, der irrt
gewaltig. Warum? Das nördlichste Land Afrikas war bis 1956
französische Kolonie. Anschließend machte Frankreich in Tunesien
das, was es in all seinen afrikanischen Kolonien machte, wenn es sie
in die Unabhängigkeit entließ: Es setzte eine Regierung ein, die
Paris nach wie vor nahe stand, um das (formal) unabhängige Land wirtschaftlich weiterhin eng an sich
zu binden. In Tunesien war dies die autoritäre Einheitspartei
Destour, die das Land ununterbrochen von 1956 bis zum „Arabischen
Frühling“ mit eiserner Hand regierte. 1987 wurde Zine Ben Ali
neuer Präsident von Tunesien. Wie fast alle Staatsoberhäupter
ehemaliger französischer Kolonien in Afrika genoss auch er einen
klassischen westlichen Werdegang: Er wurde an einer französischen Militärschule in
der Bretagne ausgebildet, anschließend wurde er in den USA vom
amerikanischen Geheimdienst geschult. 1984 wurde Ben Ali Tunesiens
Innenminister und damit Chef der Polizei. Nach seiner Ernennung zum
Premierminister im Spätsommer 1987 setzte Ben Ali durch einen
unblutigen Putsch (was bedeutet: mit Zustimmung Frankreichs) den
bisherigen Staatspräsidenten Habib Bourguiba ab, erklärte sich
selbst zum Präsidenten und macht das Land noch stärker zum
Polizeistaat. Da gleichzeitig auch die Korruption im tunesischen
Alltag immer groteskere Züge annahm, eben weil die Polizei zu viel
Macht besaß, kam es im Dezember 2010 auf dem Markt im
zentraltunesischen Sidi Bouzid zu einem folgenschweren Ereignis:
Nachdem die Behörden immer wieder seine Waren beschlagnahmten, weil
er keine Bestechung zahlen wollte und konnte, zündete sich der
Gemüseverkäufer Mohamed Bouazizi als Zeichen des Protestes selbst
an. Anfang Januar 2011 erlag Bouazizi seinen Verletzungen in einem
Krankenhaus in Tunis. Dies löste in ganz Tunesien und schließlich
in der ganzen arabischen Welt Massenproteste aus, die als „Arabischer
Frühling“ in die Geschichtsbücher eingehen werden und die zum
Sturz mehrerer Staatsoberhäupter führten – darunter auch Ben Ali,
der am 14. Januar 2011 Tunesien fluchtartig verließ. Im Gegensatz zu
seinem libyschen Diktatoren-Nachbarn Muammar al-Gaddafi, der am 20.
Oktober 2011 ermordet wurde, überlebte Ben Ali den „Arabischen
Frühling“; er lebt nach wie vor im Exil in Saudi-Arabien. Nicht
geändert hat sich seit der Revolution vor sechs Jahren allerdings,
dass die Polizei in Tunesien weiterhin omnipräsent und übermäßig
misstrauisch ist, was natürlich auch damit zu tun hat, dass es dem
Land durch den steigenden Islamismus – der unter Ben Ali
kompromisslos bekämpft wurde – und durch zahlreiche Anschläge an
Stabilität fehlt. In Bezug auf den tunesischen Fußball gilt: Schon
in der Ben-Ali-Ära war die Polizei in den Stadien
überdurchschnittlich stark präsent; daran hat sich seit der
Revolution nichts geändert. Nun hat man durch die fehlende
Stabilität im Land sogar ein Argument dafür, jegliche Aktivitäten in den
Stadien im Keim zu ersticken, die in irgendeiner Weise für Unruhe
sorgen könnten. Und natürlich haben Fußballfans auch in Tunesien
keine große Lobby. Heißt: Für die Spiele wird meist nur eine
streng limitierte Anzahl an Tickets verkauft oder sie finden sogar
gänzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Und das gilt
auch für Spiele der Ligue 3. So bleiben auch bei der heutigen Partie
in La Soukra – ein vergleichsweise moderner Vorort (Standort des
ersten Hypermarché Tunesiens) mit respektablen 120.000 Einwohnern in
der Banlieue von Tunis – die Stadiontore offiziell verschlossen.
Dass sich letztendlich doch rund 50 Zuschauer auf der bröckelnden
Tribüne einfinden, zeigt einmal mehr, dass die Gutsherrenart der
Polizei und die korrupten Zustände der Ben-Ali-Zeit allmählich
zurückkehren. Wer einen der Polizisten kennt oder ihm eine Münze
in die Tasche stecken kann, darf das blaue Eingangstor passieren. Für
den einzigen europäischen Zuschauer der heutigen Partie heißt es
hingegen, zunächst 20 Minuten vor dem verschlossenen blauen
Eingangstor in der prallen nordafrikanischen Sonne auszuharren, um
dann einer 15-minütigen Befragung durch zwei Zivilpolizisten
ausgesetzt zu werden. Da bei dieser Befragung für die Polizisten
nicht plausibel wird, warum der Europäer das Stadion betreten will,
und auch nicht die Namen von mindestens drei Spielern aus dem Kader
des AS La Soukra genannt werden können, wodurch fehlendes Interesse
an der Partie attestiert wird, wird der Bitte, das Stadion betreten
zu dürfen, nicht entsprochen. Erst durch erneutes Intervenieren kurz vor
der Halbzeitpause, Rücksprache per Funk mit dem Commissariat und die
Zustimmung, dass der Reisepass bis zum Abpfiff in der Hand der
Polizei bleibt, darf das Stadion dieses tunesischen Drittligisten
betreten werden.
(Tunis Centre Ville/Zentrum)