Deutschland, Kreisliga B Kassel – Staffel 1 (10.Liga)
Donnerstag, 9. Juni 2022, 18.30 Uhr
Lohfelden, Nordhessenstadion
9-Euro-Ticket, Tag 9 – und wieder wird der große Vorteil des gelobten Fahrscheins ausgespielt, denn es geht mit dem Zug in ein anderes Bundesland, wofür sonst der Kauf von gleich zwei Ländertickets notwendig wäre. Das neben Kassel gelegene Lohfelden habe ich schon lange auf dem Zettel stehen, denn der dortige Fußball-Sportclub spielte mehrere Jahre in der Oberliga Hessen und kickt mit dem Nordhessenstadion in einem sehenswerten Ground. In dieser Ecke Deutschlands neigt man ja dazu, Stadien gerne etwas überdimensioniert zu bauen – siehe Baunatal. Und auch das Nordhessenstadion ist sicherlich etwas zu groß geraten. Das merkt man schon an den Toilettenanlagen: Es gibt mehr Pissoirs als Zuschauer. Zwar darf heute Abend nur die zweite Mannschaft ran, aber die frühe Anstoßzeit (18.30 Uhr) aufgrund des fehlenden Flutlichts muss einfach mitgenommen werden. Denn nur so ist es möglich, nach Spielende noch mit dem Zug zurück nach Bielefeld zu kommen. Bei einem Anpfiff von 19 Uhr wäre das schon nicht mehr drin. Es gibt aber auch noch ein zweites gutes Argument, sich hier nur die zweite Mannschaft anzuschauen, denn heute Abend ist mit Dynamo Windrad Kassel ein ganz besonderer Verein des deutschen Fußballs zu Gast, den ich ebenfalls schon lange auf dem Zettel stehen habe. Er lieferte sich nämlich jahrelang mit dem Hessischen Fußballverband, dem DFB und sogar der Bundesrepublik Deutschland himself einen Rechtsstreit, der vom Kalten Krieg gekennzeichnet war. Dynamo Windrad wurde 1982 von linken Freizeitfußballern aus Kassel gegründet. Den Namensteil Dynamo erlaubte der HFV aber nicht, da er zu sehr an die DDR erinnere. Der Verein klagte dagegen und ging 1985 bis vors Oberlandesgericht in Frankfurt, das dem HFV recht gab, denn Dynamo sei schließlich ein Name, den man dem kommunistischen Kulturkreis zuordne. Dynamo Windrad ging schließlich bis vor das Bundesverfassungsgericht und stichelte immer weiter gegen HFV, DFB und BRD. So trug man Trikots mit einem abgewandelten Wappen des DFB, aus dem der Adler fällt, unternahm Vereinsreisen in die DDR, die Sowjetunion, nach China und Kuba und als Spitze des Eisbergs beantragte man ganz offiziell die Aufnahme in den Sportbund der DDR, die jedoch von Ost-Berlin abgewiesen wurde, weil das nur DDR-Bürgern möglich sei. Ehe das Bundesverfassungsgericht ein Urteil fällen konnte, fiel die Mauer und mit der Wiedervereinigung gehörten nun auch Vereine wie Dynamo Dresden zum DFB. Dynamo Windrad Kassel konnte damit der Name nicht weiter verboten werden, der Name war über Nacht salonfähig geworden. Ganz starke Geschichte! Den Verein gibt es weiterhin und dass er sogar mit zwei Mannschaften am Spielbetrieb teilnimmt, zeigt dann auch, dass er keine Nachwuchssorgen hat. Seinen alternativen Touch hat er behalten, was man schon an der Regenbogen-Fahne sieht, die mehrfach an der Spielkleidung zu sehen ist. Ganz ungewöhnlich ist, dass Dynamo Windrad an einer Tradition aus seinen Anfangstagen weiter festhält: Die Mannschaft spielt den Ball beim Anstoß grundsätzlich zum Gegner – als Zeichen der Freundschaft. Und das ist hier wohlgemerkt der reguläre Spielbetrieb, kein Freizeitfußball. Schöne Geste in Zeiten, in denen es auch in diesen Ligen immer verbissener zugeht. Und so wird dieser wunderbare Sommerabend ein Paradebeispiel dafür, wie Fußball immer sein sollte: 12 Tore, eine Handvoll Gästefans mit Support, einheimisches Bier (Hütt aus Baunatal), Wurst vom Grill und ein sehr ansehnliches Stadion. Selbst die Bahn spielt heute mit und bringt mich wieder pünktlich nach Bielefeld. Nur der Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe geht mit seinen Rampen mal wieder tierisch auf den Sack.