Deutschland, Württemberg-Pokal (Halbfinale)
Dienstag, 18. Mai 2021, 19 Uhr
Stuttgart, Waldaustadion
Der alljährige Pflichtbesuch bei meinem Heimat- und Herzensverein steht diesmal unter ganz speziellen Vorzeichen, denn es handelt sich hier dank coronabedingtem Abbruch der Oberliga-Saison um das erste Pflichtspiel der Kickers seit dem 24. Oktober 2020. Mehr als fünf Monate Fußball-Pause – das gab es in Stuttgart nicht einmal nach dem Zweiten Weltkrieg. Dazu ist es natürlich auch ungewohnt, im Landespokal ein Heimspiel zu haben, denn jahrelang war man hinter dem VfB der höchstklassige Verein in Württemberg und kam nie in die Verlegenheit, Heimrecht zu haben. Heute haben einem Vereine wie Heidenheim, Großaspach oder eben auch Balingen den Rang abgelaufen. Früher spielten da überall die Kickers II. Froh muss dagegen sein, dass das Pokal-Halbfinale gegen die TSG Balingen überhaupt stattfinden kann. Das noch ausstehende Viertelfinale zwischen den Oberliga-Konkurrenten SSV Reutlingen und FSV Bissingen wurde nämlich ersatzlos gestrichen, da beide Mannschaften von behördlicher Seite keine Spielgenehmigung haben und nicht mal trainieren dürfen. Corona hätte die TSG Balingen also um ein Haar kampflos ins Finale gegen den SSV Ulm gebracht – doch den Kickers liegt eine Trainings- und Spielgenehmigung von der Stadt Stuttgart vor. Da erweist es sich als Vorteil, dass es den VfB gibt, denn was man den Roten erlaubt, kann man den Blauen schließlich nicht verwehren. Sportlich fair ist es natürlich trotzdem nicht, dass die TSG Balingen voll im Spielfluss ist, während die Kickers seit Monaten kein Pflichtspiel bestritten haben. Immerhin haben sie es in den vergangenen Tagen noch geschafft, hastig ein paar Testspiele auszutragen, wenngleich die Suche nach Gegnern nicht leicht fiel. Es darf ja fast keiner spielen, also musste man unter anderem die U19 des VfB zum Sparringspartner machen. Man ahnt es schon: Die Chancen der Blauen gegen die TSG Balingen sind ausgesprochen niedrig. Dass es bei diesem Spiel um viel geht und der DFB-Pokal nur noch zwei Siege entfernt ist, merkt man heute schon rund ums Stadion. Ein rund 50-köpfiger Kickers-Mob lungert herum, einheitlich gekleidet mit blauen Schlauchschals. Der findet sich pünktlich zum Anpfiff in der Ecke zwischen Gegengerade und Westtribüne ein, von wo aus man ein paar Blicke aufs Spielfeld erhaschen kann, und setzt ordentlich Pyrotechnik ein. Der Wind steht günstig, so dass die ganze Rauchwolke schön langsam über den Platz zieht. In der ersten Halbzeit wird von draußen relativ durchgängig supportet. Ist in Ordnung, aber in Anbetracht der Bedeutung dieses Spiels und der mehrmonatigen Pause hätte ich mir einen etwas motivierteren Auftritt gewünscht. Es spielt halt auch einfach nicht in die Karten, dass das Liedgut bei den Kickers nur selten mitreißend ist. Ein strukturelles Problem, leider schon seit vielen, vielen Jahren. In der Halbzeitpause tritt dann die Polizei in Erscheinung und löst die Versammlung vor dem Stadion auf. Der Kickers-Anhang leistet Folge: Zunächst wird noch eine Feuerwerksbatterie in den Himmel gejagt, dann wird mit lauten „ACAB“-Gesängen das Feld geräumt. Macht ja auch einfach keinen Sinn, sich dem zu widersetzen, denn die körperliche Konfrontation mit der Polizei gewinnt man nicht. Auf dem Spielfeld präsentieren sich die Blauen leider so, wie sie sich in den vergangenen 100 Jahren fast immer präsentiert haben: Die wichtigen Spiele werden nicht gewonnen. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Vereinsgeschichte, angefangen beim verlorenen Finale um die deutsche Meisterschaft 1908 gegen Viktoria Berlin bis hin zur Relegation 2019, als man mit Unentschieden gegen Alzenau und Völklingen den Aufstieg in die Regionalliga vergeigt hat. Man muss einfach akzeptieren: Das ist Teil der Kickers-DNA. Heute ist die Niederlage gegen die TSG Balingen aber extrem unnötig, weil man wirklich nah dran ist an der Überraschung. Bis zur 62. Minute steht es 0:0, ehe Kickers-Torwart Bromma bei einem eigentlich gefahrlosen Befreiungsschlag einen Balinger Spieler anschießt, der Ball von ihm abprallt und daraufhin in bester Slapstick-Manier ins eigene Tor kullert. Zwei Minuten später folgt das 0:2, die Sache damit gegessen. Der Anschlusstreffer zum 1:2 in der 83. Minute kommt zu spät, wenngleich es in der Nachspielzeit noch zu einer strittigen Entscheidung im Balinger Strafraum kommt. Die Kickers fordern einen Elfmeter, der Pfiff bleibt aber aus. Die TSG Balingen steht damit im Pokalfinale gegen den SSV Ulm. Trotzdem: Es war mal wieder schön, einen Abend im ältesten Fußballstadion Deutschlands unter dem ältesten Fernsehturm der Welt zu verbringen.
(Weitere Fotos gibt es hier bei den Blauen Bombern)