Montag, 23. Dezember 2019, 14.30 Uhr
Sderot, Sderot Stadium
Israel – nur an Weihnachten und dann mit Heiligabend in Bethlehem. Diesen Grundsatz hatte ich schon vor einigen Jahren gefasst, auch wenn es zwischendurch immer mal in den Fingern gejuckt hat, die eigene Prämisse über den Haufen zu werfen und einfach so mal ins heilige Land zu fliegen. Glücklicherweise blieb ich eisern und da es in diesem Jahr an Weihnachten mal keine familiären Verpflichtungen gibt, steht der lang ersehnten Christmas-Tour nach Israel nichts im Wege. Die Preise schießen rund um Weihnachten natürlich in die Höhe, etwa in Jerusalem kosten die Hotels über die Feiertage plötzlich das Doppelte. Hinzu kommt, dass in diesem Jahr auch das jüdische Chanukkafest mit dem christlichen Weihnachtsfest zusammenfällt, was die Preise zusätzlich explodieren lässt. Einen Flug für unter 100 Euro zu ergattern ist also komplett utopisch, aber mit 230 Euro bin ich für den Direktflug von Frankfurt nach Tel Aviv und wieder zurück doch ganz gut dabei. Günstigster Anbieter auf dem Markt ist komischerweise die staatliche israelische Fluggesellschaft El Al (Hebräisch für „zu Gott hin“), die ja eigentlich als teuerste Airline der Welt gilt. Teuer deshalb, weil sie extreme Sicherheitsvorkehrungen trifft, die sich auf den Flugpreis niederschlagen. So haben alle El-Al-Maschinen ein Flugabwehrsystem an Bord sowie verstärkte Bodenplatten zwischen Fracht- und Passagierraum, der vor explodierendem Sprengstoff im Gepäck schützen soll. Bereits am Boden kommt das Gepäck in spezielle Druckkammern, die Zünder auslösen, die sich im Gepäck befinden könnten. El-Al-Piloten sind in der Regel ehemalige Kampfpiloten der israelischen Luftwaffe, die auch im Nahkampf geschult sind, zudem sind die Türen zum Cockpit durch ein Schleusensystem schwieriger zu öffnen als in normalen Flugzeugen. El-Al-Passagiere müssen bereits drei Stunden vor Abflug am Flughafen erscheinen, weil sie von Mitarbeitern der Airline – meist Angehörige des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet – mit speziellen Interviews befragt werden, durch die herausgefunden werden soll, ob man ein Terrorist ist. Durchaus gespannt erreiche ich also am Nachmittag dieses 22. Dezembers den Frankfurter Flughafen – und weil ich ein pünktlicher Deutscher bin, der wenig Vertrauen in die Deutsche Bahn hat und sich bewusst ein üppiges Zeitpolster erschaffen hat, bereits viereinhalb Stunden vor Abflug. Auffallend: Die Check-In-Schalter von El Al befinden sich in der hintersten Ecke des Flughafens. Während man bei anderen Schaltern im Flughafen durch Aufsteller oder Werbematerial meist sehen kann, welche Airline dort ihren Standort hat, geht es bei El Al auffallend unauffällig zu. Das ändert sich jedoch pünktlich vier Stunden vor Abflug, als rund 20 Bundespolizisten mit Maschinenpistolen und Spürhunden um die Ecke biegen und den El-Al-Bereich komplett auseinandernehmen. Selbst die Computertastaturen werden mehrfach untersucht. Der ganze Spuk fängt damit aber erst an, denn kurz darauf folgt die El-Al-Truppe mit ihren eigenen (bewaffneten) Sicherheitsleuten, die das ganze Prozedere noch einmal durchführt. Das ist übrigens nicht nur in Deutschland üblich, sondern El Al macht das an allen Standorten – außer am Flughafen Kopenhagen, wo den dänischen Behörden das offensive Auftreten der Israelis ein bisschen zu bunt wurde und entsprechende Verbote ausgesprochen wurden. Seitdem wird Dänemark von El Al boykottiert. Nachdem in Frankfurt dann die El-Al-Leute jeden Staubkorn an den Check-In-Schaltern umgedreht haben, beginnt pünktlich drei Stunden vor Abflug das Einchecken mit den sehnlichst erwarteten Interview-Fragen. Die meisten Leute um mich herum besitzen neben einem deutschen auch einen israelischen Pass, dort ist der Spaß schon nach wenigen Fragen vorbei. Anders bei mir, ich darf auch aufgrund malaysischer und türkischer Einreisestempel fast 15 Minuten lang Fragen beantworten – wohlgemerkt auf Englisch, nicht auf Deutsch. Mit der Zeit wird man selbst dabei richtig aggressiv, etwa bei der völlig wirren Frage, warum man denn ab Frankfurt und nicht ab München abfliege, wenn der Weg dorthin ab Stuttgart doch in etwa genauso lang ist. Für meine Reisen nach Malaysia und in die Türkei muss ich detailliert darlegen, was ich dort jeden Tag gemacht und wo ich übernachtet habe. Nett ist auch die Frage, ob ich in Deutschland Kontakt zu Muslimen hätte. Äh, ich hole mir zweimal pro Woche einen Döner... Natürlich wird auch ein detaillierter Reiseplan samt Hotelreservierungen für die kommenden Tage in Israel verlangt. Wenig überraschend wird mein Gesprächspartner sehr hellhörig, als ich sage, dass ich am Heiligabend nach Bethlehem fahren möchte, das ja in den Palästinensergebieten liegt. Und dann wird ernsthaft gefragt, warum ich denn Heiligabend ausgerechnet nach Bethlehem und nicht in irgendeine andere Stadt fahren möchte. Muss ich jetzt ernsthaft einem Juden die Bibel erklären? Auf Englisch? Nach einer Viertelstunde bekomme ich doch noch einen Aufkleber auf die Rückseite meines Reisepasses und darf mein Gepäck einchecken, womit ich zwischendurch ehrlich gar nicht mehr gerechnet habe. Doch auch damit ist der Spaß noch lange nicht vorbei, denn El Al benutzt nicht die normale Sicherheitskontrolle des Frankfurter Flughafens, sondern unterhält einen eigenen Bereich. Dort schaut der Mitarbeiter auf den Aufkleber auf meinem Reisepass und schickt mich sofort in ein Büro, wo noch mal mein Handgepäck und alle persönlichen Gegenstände gecheckt werden. Man nimmt sogar jeden einzelnen Geldschein aus meinem Portemonnaie und schaut die sich an. Fazit: Drei Stunden vor Abflug am Check-In-Schalter gewesen, aber erst 20 Minuten vor Abflug am Gate – bei El Al muss man wirklich Zeit einplanen. Ich habe Geschichten gehört, dass nicht auf einen gewartet wird und man einfach stehen gelassen wird, wenn man noch im Sicherheitscheck steht. Das alles scheint schon mal ein guter Vorgeschmack zu sein auf das, was mich in den kommenden Tagen in Israel erwartet. Dazu passt auch ganz gut, was innerhalb des Flugzeugs passiert, denn während des Flugs werden auf den Bildschirmen ständig Propagandavideos des israelischen Militär eingespielt. Our heroes! Umso unspektakulärer ist die Einreise am Flughafen Tel Aviv-Ben Gurion. Keine Fragen und man muss nicht einmal mehr darauf hinweisen, dass man keinen Stempel in den Pass gedrückt bekommen möchte, denn man bekommt inzwischen ganz automatisch einen ausgedruckten Zettel samt Passfoto, der als Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate gilt. Man sollte ihn in eigenem Interesse gut aufbewahren, denn in Israel existiert ein seltsames Gesetz, das Touristen im Gegensatz zu Israelis bei Hotelübernachtungen von der Mehrwertsteuer befreit. Wer also beim Einchecken in einem Hotel den Einreisezettel vorzeigt, spart Geld. Und noch ein spannendes Gesetz haben sich die Israelis speziell für deutsche Touristen einfallen lassen, was in dem Fall mit Blick auf die Geschichte nur allzu nachvollziehbar ist: Visumfrei einreisen dürfen nur die Deutschen, die nach dem 1. Januar 1928 geboren sind. In Tel Aviv flutscht es dann nicht nur bei der Einreise, sondern auch bei der Abreise vom Flughafen. Israel hat ein richtig starkes ÖPNV-System, am ans nationale Eisenbahnnetz angeschlossenen Flughafen-Bahnhof fahren die ganze Nacht hindurch Züge. Weit geht es nicht, denn in den ersten beiden Nächten wird Quartier in Tel Aviv bezogen. Nach nur wenigen Minuten Fahrtzeit spuckt mich der rote Doppelstock-Zug, der aus Deutschland bestens bekannt ist, am zentralen Bahnhof HaHagana (benannt nach der israelischen Terrormiliz Hagana, die vor 1948 die Palästinenser vertrieb und so den Weg frei machte für die Gründung des Staates Israel) aus, in dessen Nähe sich auch der Busbahnhof befindet. Es ist die schmuddeligste Ecke von Tel Aviv, nicht gerade der beste Ort für den ersten Eindruck. Das liegt am Busbahnhof selbst: Der siebengeschossige Beton-Koloss mit seinen 29 Rolltreppen und mehr als 1.000 Geschäften wurde bereits 1967 geplant und erinnert an jugoslawischen Futurismus. Erst 1993 wurde er eröffnet und war zu diesem Zeitpunkt der größte Busbahnhof der Welt. Statt die Nachbarschaft aufzuwerten macht er genau das Gegenteil und dank ihrer Überdimensionierung nimmt die brachiale Fehlkonstruktion den angrenzenden Gebäuden auch noch das Sonnenlicht. Die Gegend ist inzwischen das Zentrum der afrikanischen Juden von Tel Aviv, die hauptsächlich aus Äthiopien stammen. Man bekommt hier aber gut ein Taxi, so dass ich meine Unterkunft problemlos erreiche.
Nach ein paar Stunden Schlaf wird am nächsten Morgen erst einmal das Internet angeworfen. In Israel werden die unterklassigen Spiele mitunter sehr kurzfristig terminiert, so dass berechtigte Hoffnung besteht, vor dem Abendspiel in Petah Tikva noch ein zweites Spiel zu sehen. Und tatsächlich: Um 14.30 Uhr wird in Sderot angepfiffen. Beim Blick auf Google Maps winke ich innerlich zunächst ab, weil Sderot kurz vorm Gazastreifen liegt. Zu weit weg. Ein Fehler, den ich in den kommenden Tagen immer mal wieder machen werde, denn man vergisst: Israel ist mit seinen knapp zehn Millionen Einwohnern ein sehr kleines Land. Zudem wird es größtenteils von unbewohnter Wüste bedeckt, während die Städte sehr nah beieinanderliegen. Das ganze Eisenbahnnetz von Israel erinnert beim genaueren Hinsehen eher an ein deutsches S-Bahn-Netz. Und siehe da: Sderot ist ja nur 90 Minuten entfernt. Eigentlich ist Israel ein Bus-Land, Busse sind günstiger als Züge und das Bus-Netz ist besser ausgebaut. Allerdings nehme ich persönlich immer lieber den Zug und da der ÖPNV in Israel generell billig ist, geht es nach Sderot auf der Schiene. Die Fahrt schlägt sich zu Buche mit 23 Schekeln (knapp 6 Euro), was gerade mit Blick auf das in Israel herrschende Preisniveau umso günstiger ist. Finanziell herrschen im heiligen Land norwegische Verhältnisse, selbst für einen einfachen Shawarma an einem Straßenimbiss muss man umgerechnet an die zehn Euro bezahlen. Ziemlich irre, wenn man dazu die ÖPNV-Preise ins Verhältnis setzt. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum ich mir überlege, überhaupt nach Sderot zu fahren, denn die Stadt ist gelinde gesagt speziell. Das 26.000-Einwohner-Städtchen liegt nur zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt, weshalb keine andere israelische Stadt so oft von der im Gazastreifen regierenden Hamas mit ihren selbstgebauten Kassam-Raketen beschossen wird wie Sderot. „Rocket City“ lautet der Spitzname der Stadt, wobei das mit Blick auf die vielen Toten deutlich zu niedlich klingt. Höhepunkt waren der Januar und der Februar 2008, als mehr als 1.000 Kassam-Raketen in Sderot einschlugen. Im Schnitt bedeutet das: Alle 90 Minuten ein Raketenangriff, auch in der Nacht. Bereits 2004 wurde in Sderot ein Frühwarnsystem installiert, das abgefeuerte Raketen erkennt und einen Alarm auslöst. Nach dem Erklingen des Alarms haben die Bewohner 8 bis 15 Sekunden Zeit, um einen der vielen öffentlichen Bunker in Sderot aufzusuchen – falls sie keinen eigenen Luftschutzbunker besitzen, was aber bei fast jedem Haus der Fall ist. Wie der Alarm klingt und was dann passiert, kann man umfänglich auf Youtube sehen (unter anderem hier). 2010 stationierte die israelische Armee schließlich den Iron Dome in Sderot. Das Raketenabwehrsystem schießt die Kasasm-Raketen ab, bevor sie die Stadt erreichen. Allerdings kostet eine Iron-Dome-Rakete rund 50.000 Dollar und da immer gleich zwei Raketen abgefeuert werden, schlägt sich jeder Einsatz mit 100.000 Dollar zu Buche. Es wird also jedes Mal genau berechnet, ob die palästinensische Kassam-Rakete wirklich im Stadtzentrum einschlägt und ob sich der Einsatz des Iron Domes lohnt. „Rocket City“ wird somit weiterhin von Kassam-Raketen getroffen, auch wenn es weniger geworden sind. Logischerweise ist Sderot kein Ort, an dem man gerne leben möchte, aber da die Stadt für Israel eine Prestigefrage geworden ist, wird – neben dem Iron Dome – viel investiert, damit die Leute hier wohnen bleiben. So erhalten die Einwohner unter anderem massive Steuervergünstigungen. Zudem wurde Sderot kürzlich an das nationale Schienennetz angeschlossen. Der Bahnhof wurde dabei genau zwischen der Stadt und der Grenze zum Gazastreifen gebaut – als ob man ganz bewusst sagen wollte: Man muss keine Angst haben. Wenig überraschend ist Sderot trotzdem der einzige raketensichere Bahnhof Israels. Schon wenige Kilometer vor Sderot wird deutlich, dass gleich kein normaler Bahnhof kommt, denn obwohl die Strecke durch die Negev-Wüste führt, tauchen plötzlich Bäume direkt neben den Schienen auf. Sie dienen als Sichtschutz, damit die Züge nicht zu leichte Beute für die Hamas sind, denn logischerweise verlaufen auch die Schienen entlang der Grenze zum Gazastreifen und werden angegriffen. Man steigt durchaus mit einem mulmigen Gefühl in Sderot aus und das gilt erst recht in der Innenstadt, die einmal durchquert werden muss, um zum Stadion zu gelangen. Alle paar Meter steht ein kleiner Betonbunker, der optisch einem Buswartehäuschen ähnelt. Irgendwie schaut man immer in Richtung Himmel und versucht gleichzeitig im Auge zu behalten, welcher Bunker jetzt der nächstgelegene wäre, falls der Alarm ertönt. Nach oben gucken ist in diesem Fall ohnehin nicht ganz so verkehrt, denn wirklich viel zu sehen gibt es in Sderot nicht. Ein wirkliches Stadtzentrum existiert nicht, es stehen hier eigentlich fast nur Wohnhäuser. Auch ein Indiz dafür, dass hier eigentlich niemand leben will. Außer der ehemalige israelische Verteidigungsminister Amir Peretz, der sich ganz bewusst in Sderot ein Haus gebaut hat. Gegründet wurde Sderot übrigens schon 1951, nachdem die israelische Terrormiliz Hagana 1948 die arabische Bevölkerung in den Gazastreifen vertrieb. Richtig gewachsen ist die Stadt aber erst nach 1990, als Juden aus der zusammengebrochenen Sowjetunion in Sderot angesiedelt wurden. Dass Geld keine Rolle spielt, wenn es um Infrastrukturprojekte in Sdreot gehen, sieht man auch am Stadion, das absolut in Schuss ist. Der Fußball soll die Einwohner auf andere Gedanken bringen, weshalb bei den Heimspielen von Maccabi Ironi Sderot auch kein Eintritt verlangt wird. Da heute das Spitzenspiel gegen Tabellenführer Ironi Kuseife ansteht, verhängt die Polizei die Auflage, dass man nur mit einer Eintrittskarte das Stadion betreten darf, die allerdings nichts kostet. Vermutlich geht es nur darum, zu reglementieren, dass nicht zu viele Zuschauer ins Stadion kommen. Für mich bedeutet das jedoch: Früh da sein und vor Ort einen Kontakt knüpfen, um an eine Karte zu kommen. Direkt am Stadion haue ich gleich mal ein paar Rentner an, die aber gleich abwinken und meinen, dass ich es gar nicht weiter versuchen brauche. Hinter der Kurve lungern jedoch ein paar Jungs der 2018 gegründeten Ultras Sderot herum, die zwar nur Russisch sprechen, aber trotzdem kapieren, was ich will. Zwei Telefonate später wird mir ein Ticket überreicht. Stabile Typen. Es gibt in Sderot allerdings auch keine Touristen, was die Leute hier zumindest beim Fußball sehr neugierig und offen macht. Im Stadion sind die Jungs leider nicht ganz so aktiv wie bei der Kartenbeschaffung: In der ersten Halbzeit gibt es gar keinen Support, in der zweiten ein paar gelegentliche Schlachtrufe. Die rund 150 Gästefans aus dem ebenfalls in der Negev-Wüste gelegenen Kuseife sind da schon etwas lebhafter, auch wenn Zaunfahnen und anderes Material leider nicht vorhanden ist. Die ganze Atmosphäre wirkt auf mich dennoch etwas gespenstisch, immer wieder schaue ich während des Spiels automatisch nach oben und suche den Himmel nach irgendwelchen Flugkörpern ab. Heute bleibt zwar alles ruhig, drei Tage später aber wird Israels Ministerpräsident Netanyahu in der Nähe eine Wahlkampfveranstaltung abhalten, während der es zu massivem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen und dem Einsatz des Iron Domes kommt. Der Länderpunkt Israel ist damit mit einem ziemlich bizarren Ground gemacht, umso geregelter geht es am Abend weiter in Petah Tikva.