Dienstag, 31. Dezember 2019, 14 Uhr
Nahariya, David Zimand Stadium
Die sehr genialen Anstoßzeiten in Israel habe ich bereits angesprochen und so wundert es nicht wirklich, dass im heiligen Land sogar an Silvester gekickt wird. Einmal mehr den Daumen ganz weit nach oben für die Israel Football Association! Auf dem Weg zu meinem 272. Spiel des Jahres (persönlicher Rekord) geht es noch einmal ein Stück weiter nach Norden – und zwar bis Nahariya (50.000 Einwohner). Hier endet das israelische Schienennetz, bis zum Libanon sind es nur noch zehn Kilometer. Nahariya wurde von jüdischen Flüchtlingen aus Württemberg gegründet, die sich zwischen 1933 und 1939 hier ansiedelten. Die pfiffigen Schwaben erkannten schnell, welch touristisches Potenzial sich durch die Lage an Meer und Strand ergibt. Statt wie andernorts auf Industrie oder Landwirtschaft zu setzen, baute man in „Neu-Württemberg“ die ersten Hotels und lockte Touristen an. Schnell entwickelte sich Nahariya zu einem Hotspot des israelischen Badetourismus, aber auch zu einem Zentrum der deutschsprachigen jüdischen Kultur. Von der deutschen Sprache bekommt man heute nichts mehr mit im israelischen Württemberg, sehr wohl aber vom Tourismus. Hotel reiht sich an Hotel, der Strand ist voller Attraktion für Urlauber. Jetzt im Winter ist zwar nichts los, aber man kann sich gut vorstellen, dass das hier im Sommer eine Art israelischer Ballermann ist. Etwas anderes fällt in Nahariya ebenfalls sehr schnell auf, nämlich die Nähe zum Libanon. Genau wie die Hamas im Gazastreifen beschießt auch die Hisbollah im südlichen Libanon die Grenzregion in Israel regelmäßig mit Raketen. Schon am Bahnhof fallen die Propagandaplakete der israelischen Armee auf, die einige Geschäfte aufgehängt haben, und vor dem Bahnhofsgebäude steht ein Armee-Denkmal in Form eines Artilleriegeschützes. Da weiß man sofort, wo man hier gelandet ist. Unweit des Bahnhofs steht auch das David Zimand Stadium, in dem aktuell nur Viertliga-Fußball geboten wird, das vom Ausbau her aber durchaus für höhere Aufgaben berufen wäre. Für die Liga Bet ist das Teil zweifelsohne überdimensioniert, die Zuschauerzahl ist nur mit Arg und Krach zweistellig. Auch die beiden Hamburger sind wieder dabei, so dass abermals für beste Unterhaltung gesorgt ist. Während dem Spiel hören wir übrigens einen richtig lauten, dumpfen Knall, woraufhin Kampfjets aufsteigen und weitere komische Geräusche folgen, die wie Artilleriefeuer klingen. Vielleicht interpretiert man da etwas wegen dem ganzen Armee-Zeug und der Grenzlage hinein, vielleicht haben wir aber gerade tatsächlich einen Raketenangriff miterlebt. Auf jeden Fall schaurig, auch wenn Sderot an sich etwas gruseliger war.
Mit dem Spiel in Nahariya endet dann auch der fußballerische Teil der Israel-Tour. Bevor es morgen Nachmittag zurück nach Frankfurt geht, bleibt aber noch der Silvesterabend in Tel Aviv. Es geht also nach Abpfiff mit dem Zug zurück in die größte Stadt Israels, die ja den Ruf als Party-Hochburg des Landes hat. Dort sind die Bars und Kneipen auch ganz gut gefüllt, aber man hat den Eindruck, dass das alles gar nicht so viel mit Silvester zu tun hat, sondern einfach der Normalzustand ist – auch wenn hier und dort zum Beispiel ein paar Luftballons in Form der Jahreszahl 2020 hängen. Der Eindruck verfestigt sich um Punkt Mitternacht am Strand: Ein paar wenige Touristen stehen mit Sektflasche (oder halt Bierdose) im Sand, schauen erwartungsvoll in Richtung Himmel – und dort passiert überhaupt nichts. Mag sein, dass es aufgrund der ständig bedrohlichen Sicherheitslage ein Feuerwerk in Israel nicht möglich ist, vielleicht hängt es aber auch damit zusammen, dass das Judentum – genau wie der Islam – einen eigenen Kalender nutzt und Silvester daher kein besonderes Datum ist. Wie auch immer: Nur wegen dem Jahreswechsel muss man ganz bestimmt nicht nach Tel Aviv fliegen. Dafür bieten sich mit dem Silvesterabend und dem Neujahrsmorgen noch einmal zwei Möglichkeiten, die Stadt etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, wofür bislang trotz den fünf Nächten, die ich hier verbracht habe, nicht wirklich Zeit war. Interessant ist Tel Aviv vor allem aus architektonischer Sicht, weil hier wie wohl in keiner anderen Stadt auf der Welt der Bauhaus-Stil regiert. Im Deutschland der 1920er-Jahre entwickelte sich diese Designform, die als Gegenentwurf zum Historismus der Kaiserzeit entstand: keine Schnörkel, sondern klare Linien. In Stuttgart stehen heute noch einige Gebäude aus dieser Zeit, so etwa der Hauptbahnhof, der Tagblattturm, der bei seiner Einweihung 1928 Deutschlands erstes Hochhaus war, und natürlich die berühmte Weißenhofsiedlung, die aufgrund ihrer großen Bedeutung für die Bauhaus-Kultur Unesco-Weltkulturerbe ist. Die NSDAP betrachtete das Bauhaus jedoch als „entartet“, stoppte nach ihrer Machtübernahme alle entsprechenden Bauprojekte und wollte bereits vollendete Bauwerke wie die Weißenhofsiedlung wieder abreißen lassen. In Deutschland endete damit die Bauhaus-Phase sehr abrupt und konnte nur wenige Spuren hinterlassen. Jüdische Flüchtlinge, die Deutschland verließen, brachten das Bauhaus jedoch nach Tel Aviv. Sie bauten ihre Häuser dort schließlich so, wie man es in den 1920er-Jahren in Deutschland gemacht hatte und wie man es ohne die Nazis auch in den 1930er-Jahren gemacht hätte. Nicht weniger als 4.000 Gebäude im Bauhaus-Stil stehen heute in Tel Aviv, meist ganz in Weiß, was der Stadt einen unverwechselbaren Charakter gibt. Wer weiß, vielleicht würden ohne die Nazis viele Städte in Deutschland so aussehen. Vielleicht hat man es in Tel Aviv aber auch ganz bewusst mit dem Bauhaus übertrieben, quasi um Hitler architektonisch den Mittelfinger zu zeigen. Zweifelsohne gehört Tel Aviv aber zu den Städten auf der Welt, in die man mit verbundenen Augen entführt werden kann, aber sofort wüsste, wo man ist, wenn man die Augen öffnet. Aber auch abgesehen vom omnipräsenten Bauhaus hat die Stadt noch einige Highlights zu bieten, wozu unter anderem der prächtige Rothschild Boulevard, die Dizengoff Street, der quirlige Carmel-Markt und der schöne Stadtstrand zählen. Genug Futter, um die Zeit bis zum Rückflug zu füllen. Auch dort wieder das vom Hinflug bekannte Prozedere mit Interview-Fragen und Spezial-Kontrolle, allerdings um einige Stufen entspannter als am Frankfurter Flughafen.
Kleines Israel-Fazit: Das Land an sich ist traumhaft, typischer Mittelmeer-Anrainer mit wunderschönen Stränden. Historisch betrachtet ist Israel ein Disneyland, da kann wohl kein anderes Land der Welt mithalten. Wer sich für Geschichte interessiert, sollte bei einem Besuch viiieeeel Zeit einplanen. In Jerusalem kann man in dem Fall auch gut mehr als drei Tage verbringen. Das Preisniveau ist in Israel teilweise auf norwegischem Niveau, für eine warme Mahlzeit werden selbst bei einem Straßenimbiss schnell mal umgerechnet zehn Euro fällig. Bier bekommt man an fast jede Kiosk, aber ebenfalls für teures Geld – mindestens das Doppelte wie in Deutschland. Achtung: Alkohol darf nur bis zu einer bestimmten Uhrzeit verkauft werden. Auffallend günstig ist der ÖPNV. Man kommt gut voran, das Netz ist dicht und Google Maps im Bilde. Der israelische Fußball macht extrem Laune, die Ultras fahren den Griechenland-Stil. Mit den Leuten hatte ich dagegen so meine Probleme. Ich empfand die Israelis nicht als sonderlich freundlich und als stets sehr misstrauisch gegenüber Fremden – was natürlich aufgrund der angespannten Sicherheitslage auch seine Gründe haben mag. Mein erstes richtig positives Erlebnis mit Israelis im Alltag hatte ich (abgesehen vom Kontakt mit den Ultras Sderot, die mir eine Eintrittskarte organisiert hatten) erst am vorletzten Tag in Nahariya, als in einem Restaurant ein Gast auf mich zukam, mir beim Übersetzen der hebräischen Speisekarte half und dann mit einem Lächeln zu mir sagte: „Welcome to Israel!“ So etwas in eineinhalb Wochen nur ein einziges Mal zu erleben, ist schon außergewöhnlich – vor allem in diesen Breitengraden, wo die Gastfreundschaft sonst echt aus den Socken haut.
Silvesterabend und Neujahrsmorgen
in Tel Aviv