Samstag, 23. Juni 2018, 18.30 Uhr
Chișinău, Stadionul Buiucani
1300 Kilometer sind es von Chișinău
bis nach Wien, 1300 Kilometer bis nach Moskau, 1000 Kilometer bis
nach Istanbul. Genau genommen ist das Grund für Moldawiens Misere.
Europas Armenhaus ist für viele ein völlig weißer Fleck auf der
Landkarte, eine Gegend, unter der man sich nichts vorstellen kann,
die man allenfalls vom Fußball kennt. Mir geht es da nicht anders,
aber da Moldawien eines der letzten noch unbesuchten Länder in
Europa ist und während der Fußball-WM auf dem Rest des Kontinents
sowieso kaum etwas los ist, dazu die Lufthansa mit einem
Schnäppchen-Flug lockt, ist die Gelegenheit also überaus günstig.
Warum aber die Entfernungsangaben? Nun, sie hängen eng zusammen mit der historischen Entwicklung Bessarabiens, wie Moldawien eigentlich
heißt. Mit Arabien hat das übrigens nichts zu tun – der Name geht
auf das Adelsgeschlecht Basarab zurück, das einst hier residierte.
Bessarabien liegt quasi genau in der Mitte zwischen Wien, Moskau und
Istanbul und damit im Einflussbereich von gleich drei Großmächten,
die sich den Landstrich nahe des Schwarzen Meeres über Jahrhunderte
hinweg unter den Nagel reißen wollten. Noch heute merkt man in Moldawien den
Einfluss aller drei Großmächte – architektonisch, in der Küche, bei Bräuchen und auch am Aussehen der Menschen. Das Rennen machte
letztendlich Russland, das sich Bessarabien 1812 einverleibte,
weshalb es schließlich auch Teil der Sowjetunion wurde. Dabei müsste
Moldawien eigentlich zu Rumänien gehören, denn Moldawier sind im Prinzip Rumänen. Sie sprechen Rumänisch, beide
Länder haben die gleiche Flagge (lediglich das Wappen in
der Mitte unterscheidet sich), selbst die Währung hat den gleichen Namen. Anders als Moldawien geriet Rumänien aber unter
österreichischen bzw. ungarischen Einfluss, weshalb beide Länder in der Geschichte
getrennte Wege gingen. Oder besser gesagt: gehen mussten. Diese
historische Fehlentwicklung soll nun aber korrigiert werden: Seit dem
Zerfall der Sowjetunion ist Moldawien unabhängig, sowohl
in Moldawien als auch in Rumänien strebt man seither den Anschluss an
Rumänien an. Doch an der Stelle holt Moldawien wieder die Geschichte
ein, denn bereits vor der Einverleibung Bessarabiens fiel der östlich
davon gelegene Landstrich Transnistrien („das Land östlich des
Flusses Dnestr“) an das Zarenreich, das Transnistrien mit
Bessarabien vereinte. Das kleine Transnistrien mit seinen gerade
einmal 3500 Quadratkilometern war zwar ursprünglich ebenfalls
mehrheitlich von Rumänen bewohnt, zu sowjetischen Zeiten wurden dort
aber Menschen aus der gesamten Sowjetunion angesiedelt. Man sprach aufgrund der ethnischen Vielfalt sogar vom „New York der Sowjetunion“. Rumänen bzw.
Moldawier machen dort seitdem nur noch ein Drittel der Bevölkerung
aus, der Rest sind vor allem Russen und Ukrainer. Als es in den 1980er-Jahren
in der Sowjetunion zunehmend unruhig wurde, waren auch in Moldawien
und Transnistrien nationalistische Tendenzen zu spüren, die mit dem
Zerfall der Sowjetunion zum Crash führten: Moldawien orientierte
sich in Richtung Rumänien und wollte den Anschluss, das weiterhin zu
Moldawien gehörende Transnistrien hingegen in Richtung Moskau. Da man
auf keinen gemeinsamen Nenner kam, erklärte sich Transnistrien 1991
mit seiner Hauptstadt Tiraspol für von Moldawien unabhängig. Daraufhin marschierten am 1.
März 1992 moldawische Truppen (darunter auch
paramilitärische Einheiten aus Rumänien; ein ähnliches Vorgehen wie von Serbien in den jugoslawischen Bürgerkriegen) in Transnistrien ein,
allerdings ohne echte militärische Erfolge zu erzielen. Das lag zum
einen daran, dass der Dnestr die Grenze zwischen
Moldawien und Transnistrien bildet und der eben gut zu verteidigen ist, zum anderen wurde (und wird)
Transnistrien massiv von der russischen Armee unterstützt. Moskau
ist dann doch ein zu starker Gegner. Seit Juli 1992 herrscht ein
Waffenstillstand, der bis heute anhält. Offiziell beendet ist der Krieg aber nicht. International wird die
Unabhängigkeit Transnistrien zwar nicht anerkannt, de facto ist es
aber ein eigener Staat mit eigener Regierung, eigenem Militär,
eigener Polizei, eigener Währung, eigenen Autokennzeichen und
natürlich eigener Flagge, auf der noch immer Hammer und Sichel
abgebildet sind. Man kann die Situation vielleicht ein bisschen mit
der Ostukraine vergleichen. Der Transnistrien-Konflikt gilt als
Hauptgrund, warum Moldawien wirtschaftlich nicht auf die Beine kommt,
obwohl es einst eine der reichsten Sowjetrepubliken war –
allerdings auch dank der transnistrischen Schwerindustrie, was dann
auch erklärt, warum Moldawien sich nicht von Transnistrien trennen
will. Wirtschaftlich kommt erschwerend hinzu, dass Moldawien seinen Zugang zum Schwarzen Meer
verloren hat. Bessarabien hatte ihn einst, die Sowjetunion hat ihn
aber abgeschnitten. Gerade einmal zwei Kilometer liegen heute
zwischen der moldawischen Grenze und dem Schwarzen Meer – aber
knapp daneben ist halt auch vorbei.
Kulturell orientiert sich Moldawien wie
erwähnt in Richtung Rumänien und damit in Richtung Westen. Bereits
seit 2007 dürfen EU-Bürger ohne Visum einreisen. Das wird natürlich
ebenso dankbar angenommen wie die günstigen Lufthansa-Preise an
diesem Wochenende, an dem mit dem Aufeinandertreffen zwischen Zimbru
Chișinău und Sheriff Tiraspol das moldawische El Classico
stattfindet. Bevor es aber soweit ist, bleiben noch zwei volle Tage,
um Chișinău (500.000 Einwohner; spricht sich: „Kischinau“) ein wenig unter die Lupe zu nehmen.
Und der erste Eindruck fällt ebenso positiv aus wie der zweite und
dritte. Ganz klar: Zumindest hier in der Hauptstadt sieht Europas
Armenhaus nicht wie Europas Armenhaus aus. Es ist zwar nicht der
Kurfürstendamm, aber auch nicht so schäbig wie zum Beispiel
Bukarest. Während Straßenkinder dort zum Stadtbild gehören, habe
ich in den vier Tagen in Chișinău kein einziges gesehen. Auch
Straßenhunde gibt es kaum. Das Preisniveau ist hingegen noch
niedriger als in Rumänien. Das gilt vor allem bei der Nutzung des
hervorragenden Trolleybus-Systems, das in alle Ecken der Stadt führt.
Für eine Fahrt werden pauschal 2 Lei fällig; 20 Lei
sind 1 Euro. Noch wie zu Omas Zeiten geht ein Schaffner durch die
zumeist klapprigen Busse und kassiert die Kohle ein. Auf mehreren
Anti-Korruptions-Schildern wird darauf hingewiesen, danach unbedingt
die Quittung in Empfang zu nehmen, damit sich der Schaffner die Kohle
nicht in die eigene Tasche steckt. Bei einem Fahrpreis von 10 Cent
wirkt das amüsant, allerdings ist die Korruption ein weiteres großes
Problem Moldawiens und da fängt man eben schon im Kleinen an.
Beeindruckend ist die Gastfreundlichkeit der Moldawier. Das hängt
natürlich auch damit zusammen, dass es hier quasi keinen Tourismus
gibt und Ausländer – vor allem aus dem Westen – etwas
Besonderes, wenn nicht sogar Exotisches sind. Dass man sich trotzdem
eine moderne Touri-Info (u.a. mit Touch-Screens) im Stadtzentrum
leistet, ist wieder so eine andere Geschichte, allerdings soll die
wohl hauptsächlich vom Königreich Schweden bezahlt worden sein, wie
auch das schwedische Logo auf dem kostenlosen Hochglanz-Stadtplan
verrät. Junge Leute in Chișinău sprechen meist Englisch, ältere
nicht, helfen aber mit Händen und Füßen oder ziehen andere
Leute hinzu. Während meiner insgesamt vier Tage in Chișinău kommt es
nicht ein einziges Mal vor, dass ich informationslos
stehengelassen werde. Sehr nette Leute. Das geht schon bei der Suche
nach meinem Hotel los, denn das ist etwa 400 Meter von der auf Google
Maps eingezeichneten Stelle entfernt. Keine Chance, das Ding zu
finden. Gleich der erste Typ, den ich nach dem Hotel frage, zieht
sein Handy raus, telefoniert sich durch und bringt mich dann
persönlich zum Eingang – für ein einfaches Danke. Städtebaulich
hat Chișinău hingegen wenig zu bieten. Der Triumphbogen auf dem
zentralen Platz gegenüber der Nationalversammlung ist das
Wahrzeichen der Stadt, dazu stechen noch ein paar prunkvolle
orthodoxe Kirchen heraus, das war es dann aber auch schon. Ansonsten:
viel, viel Plattenbau. Ein kleiner Geheimtipp ist vielleicht der
Zentralmarkt, der sich direkt neben meinem Hotel befindet. Dort wird
viel geboten für Auge und Nase, es hat ein bisschen etwas von einem
orientalischen Basar. Wie eingangs erwähnt ist in Moldawien nicht
nur der russische und österreichische, sondern eben auch der
osmanische Einfluss spürbar. Gerade deshalb macht es Spaß, einfach
mal ziellos durch die Straßen zu laufen und auf Entdeckungstour zu gehen,
denn: Trotz fehlender touristischer Highlights lässt sich in
Chișinău prima die Zeit vertreiben, gerade jetzt im Sommer.
Nicht fehlen darf selbstverständlich
König Fußball, denn nur beim moldawischen El Classico am Sonntag
soll es nicht bleiben. Für den Samstag hält der Spielplan in
Chișinău sowohl ein Zweit- als auch ein Drittliga-Spiel parat, leider
nahezu zeitgleich. Den Zuschlag erhält aufgrund des besseren
Stadions die 3. Liga. Buiucani ist einer der fünf Stadtbezirke
Chișinăus, der FC Dacia Buiucani war ursprünglich so etwas wie die zweite Mannschaft
des FC Dacia Chișinău, der im vergangenen Jahr aber die Segel strich. Der moldawische Meister von 2011 traf in
jüngster Vergangenheit im UI-Cup gleich zweimal auf deutsche
Mannschaften: 2003 auf Schalke, 2007 auf den Hamburger SV. Zuvor
wurde der FC Sankt Gallen aus dem Wettbewerb geschossen. Dazu hatte der
FC Dacia eine Ultras-Szene. Das gibt es in Chișinău sonst nur noch beim FC Zimbru. Das Spiel bietet also eine gute Gelegenheit, um mal nachzuschauen, ob sich die Aktivitäten der Dacia-Ultras auf die frühere zweite Mannschaft verlagert haben. Ist aber nicht so. Der
FC Dacia Buiucani besitzt ein eigenes, am Stadtrand gelegenes Stadion
(inzwischen nach einem Sportartikel-Hersteller benannt) neben dem
Izvorpark und seinem beliebten Badesee. Natürlich ist auch diese
Ecke der Stadt wunderbar mit dem Trolleybus erreichbar. Rund 30
Zuschauer sind anwesend, darunter auch eine Handvoll Hopper aus
Deutschland, die ebenfalls mit Blick auf den morgigen moldawischen
Klassiker für ein paar Tage der heimischen WM-Hysterie entfliehen
wollen. Das Stadion hat alles zu bieten, was es zu bieten haben muss
– sogar einen kleinen Biergarten, der aber etwas versteckt liegt
und leider erst in der 85. Minute entdeckt wird. Und: Auch die ersten
Straßenhunde der Tour werden im Stadion gesichtet: Zwei zuckersüße
Welpen, die sich im Sand wälzen und deren Rumgezanke fast spannender ist als der
grottige Kick. Fußballerisches Niveau wurde in der 3. Liga
Moldawiens allerdings nicht ernsthaft erwartet.