Deutschland, 2. Frauen-Bundesliga – Staffel Nord (Frauen, 2. Liga)
Donnerstag, 1. April 2021, 11 Uhr
Potsdam, Sportforum Waldstadt
Vier Tage in Folge frei: Osterzeit war einst Pflichtzeit für eine Fußball-Tour. Doch die Zeiten sind auch in diesem Jahr vorbei. Gingen wir Anfang November in den zweiten Lockdown, damit wir unbeschwert Weihnachten feiern können, fällt nun sechs Monate später auch Ostern aus. Hohoho. Wenigstens ist da noch der letzte Strohhalm Frauenfußball, der für immerhin zwei Spiele in dieser sonst so fußballreichen Osterzeit sorgt. Am heutigen Gründonnerstag geht es zunächst nach Potsdam, am Ostersonntag dann nach Wolfsburg. Das Gute an der Sache: Wie schon vor zwei Wochen in Andernach wird jeweils in einem Ground gespielt, den man nur mit Frauenfußball machen kann. Und damit macht das sogar Sinn. Bei der zweiten Mannschaft von Turbine Potsdam ist es die eigentliche Heimat des Vereins, bei dem sich ein Blick in die Vereinsgeschichte absolut lohnt. Die Gründung der Abteilung Frauenfußball basiert nämlich auf einer echten Schnapsidee. Gegründet wurde die BSG Turbine Potsdam 1955 als Betriebssportgruppe des VEB Energiekombinat Potsdam, aus der nach der Wende die MEVAG (Märkische Energieversorgung AG) und schließlich die heutige E.On wurde. Die Männer der BSG Turbine hatten nur mäßig sportlichen Erfolg, so dass es 1970 bei der Silvesterfeier des Energiekombinats zu einem folgenschweren Wortgefecht kam: In ihrer Trinklaune machten sich die Frauen des 200 Mitarbeiter starken Betriebs über den ausbleibenden Erfolg der anwesenden Männerfußballer lustig. Die wiederum konterten, beim Thema Fußball hätten sich Frauen zurückzuhalten (so viel mal zur hochgepriesenen Gleichstellung der Frau in der DDR). Die Frauen ließen das nicht auf sich sitzen und kündigten voller Trotz an, jetzt auch eine weibliche Mannschaft bei der BSG Turbine ins Leben rufen zu wollen. Man hielt das zunächst für ein Suff-Gelaber, doch kurz darauf hing tatsächlich ein Zettel im Energiekombinat, der auf die baldige Gründung der Mannschaft im Klubhaus der BSG Turbine hinwies. So kam es dann auch – und es wurde noch verrückter. Denn ebenfalls bei der Gründung im Klubhaus der Betriebssportgemeinschaft anwesend war Betriebsleiter Bernd Schröder, der aber nicht etwa wegen der Gründung der Mannschaft gekommen war, sondern weil er die Küche des Klubhauses schätzte, deshalb häufig dort war und auch an diesem Abend einfach nur etwas essen wollte. Als die Frauen einen Trainer für ihre frisch gegründete Mannschaft suchten, zeigten die Finger schnell auf Bernd Schröder. Trainer-Erfahrung hatte er überhaupt keine und auch als Spieler brachte er es nur auf ein paar Jahre als Ersatztorwart in der Reservemannschaft von Lokomotive Leipzig. Aus Verbundenheit mit seinem Betrieb nahm er den Job bei der neuen Frauenmannschaft jedoch an. Es folgte deutsche Fußball-Geschichte: 6x DDR-Meister, 6x deutscher Meister (nach der Wende), 2x Europapokalsieger, 3x DFB-Pokal-Sieger. Parallel war Bernd Schröder auch noch Trainer der 1989 bis 1990 existierenden DDR-Frauen-Nationalmannschaft. Bei Turbine war er bis 2016 Trainer (mit kurzer Unterbrechung von 1992 bis 1997, als er Manager des Vereins wurde). Ich glaube, wesentlich verrücktere Storys hat Fußball-Deutschland nicht zu bieten. Umso erstaunlicher, wie unbekannt sie doch eigentlich ist. Zudem sind die Turbine-Frauen damit der einzige ostdeutsche Verein, der vor und nach der Wende Titel geholt hat – auch wenn es sich streng genommen nicht mehr um den gleichen Verein handelt. Denn nachdem aus der BSG Turbine nach der Wende der SSV Turbine wurde, machte die Frauenfußball-Abteilung 1999 das, was sie wohl schon am liebsten bei der Silvesterfeier 1970 gemacht hätte, und spaltete sich von den Männern ab. Auch die haben sich inzwischen vom SSV Turbine gelöst und den FV Turbine Potsdam gegründet. Der SSV Turbine existiert aber weiterhin und ist vor allem für seine Faustball-Abteilung bekannt. Mit der (nicht mehr existierenden) BSG, dem nachfolgenden SSV, dem 1.FFC und dem FV besteht die Potsdamer Turbine-Familie damit aus sage und schreibe vier Vereinen. Neben dem Namen gibt es mit dem Sportforum in der Waldstadt einen weiteren gemeinsamen Nenner. Es ist die eigentliche Heimat von Turbine, auch wenn die Frauen mittlerweile mit dem Karl-Liebknecht-Stadion in Babelsberg in Verbindung gebracht werden. Die zweite Frauen-Mannschaft spielt jedoch weiterhin im Sportforum, ebenso die Männer des FV Turbine. Während die Männer aber mit dem Kunstrasen-Nebenplatz Vorlieb nehmen müssen, gehört den Frauen der Hauptplatz mit seinen fünf Stufen. Diesen Ground kann man also in der Regel nur mit den Frauen machen – und damit genau das Richtige für den Lockdown. Die Anlage liegt mitten in der Waldstadt, die ab 1950 als Plattenbauviertel von Potsdam hochgezogen wurde. Nicht ganz so wuchtig wie in anderen Städten der ehemaligen DDR, aber doch mit immerhin noch gut 16.000 Einwohnern. Gut zu erreichen ist das Sportforum vom Bahnhof Rehbrücke aus, denn natürlich geht es mal wieder mit dem Zug auf Achse. Da lobe ich mir einmal mehr die verkehrsgünstige Lage meines Zweitdomizils Bielefeld an der Bahnstrecke Köln–Berlin. Der ICE muss es aber auch schon sein, denn der Anpfiff bei Turbine II erfolgt bereits um 11 Uhr – an einem normalen Donnerstag. Zwar etwas blöd für die Gäste aus dem an der niederländischen Grenze gelegenen Bocholt, aber auf Zuschauer muss man bei der Terminierung von Geisterspielen ja keinerlei Rücksicht nehmen. Ich finde die frühe Anstoßzeit sogar gut, denn so bleibt nach dem Spiel noch viel Zeit für Sightseeing. Getreu dem Motto: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Trotz der frühen Anstoßzeit haben sich doch ein paar Zaungäste eingefunden, der absolute Großteil davon Groundhopper. Es wundert nicht, denn die Regionalliga Nordost befindet sich weiterhin im Lockdown und außer Turbine Potsdam ist im Osten derzeit nicht allzu viel los. Bei so wenig Auswahl ist dann bei den Turbine-Spielen vor dem Zaun natürlich umso mehr los. Wer es auf die andere Seite des Zauns schafft, der trifft auf recht entspannte Gastgeber. Dass man von mir am Eingang aber kaum Notiz nimmt und ich einfach reingehen kann, hat vor allem damit zu tun, dass ich zufällig zusammen mit Bernd Schröder die Anlage betrete. Wirklich wie im Drehbuch! Er ist zwar seit 2016 nicht mehr Trainer bei Turbine und bekleidet auch kein anderes Amt im Verein, wird hier aber trotzdem wie ein Staatsgast empfangen. Wenn man streng ist, könnte man zwar fragen, warum er eigentlich einem Geisterspiel beiwohnen darf, obwohl er gar kein Vereinsoffizieller mehr ist, und warum er noch dazu keine Maske tragen muss, aber diese Frage verbittet sich hier natürlich. Bernd Schröder ist Turbine Potsdam! So eine Gelegenheit muss man nutzen, weshalb ich mich während des Spiels möglichst nah an ihn heran stelle, um alten Geschichten zu lauschen. Die erzählt er schließlich fast die gesamten 90 Minuten über. Manch einer, der direkt neben ihm steht, schaut da gar nicht mehr aufs Spielfeld, sondern hängt nur an Schröders Lippen. Da würde wohl selbst Beckenbauer nur die zweite Geige spielen, wenn er anwesend wäre. Ansonsten ist Potsdam dann aber doch sehr kaiserlich, wie wir beim anschließenden Rundgang durch die brandenburgische Hauptstadt feststellen. Sie gilt als eine der wenigen Wendegewinner und hat sich nach 1990 richtig herausgeputzt. Sehenswert ist vor allem das Holländische Viertel mit seinen roten Backsteingebäuden, in dessen Erhalt auch die Niederlande nach der Wende viel Geld gepumpt haben, und natürlich der Park Sanssouci mit seinen Schlössern, auch wenn die im Lockdown leider alle geschlossen sind. Der Star ist das Schloss Sanssouci von Fritz dem Großen (von dem es im derzeit ebenfalls geschlossenen Schloss-Shop sogar Playmobil-Figuren zu kaufen gibt), mein persönlicher Favorit das italienisch anmutende Orangerie-Schloss und der vielleicht historisch interessanteste Bau das Neue Palais, Sitz des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. Ein historisch bedeutsamer Platz des 20. Jahrhunderts war auch die Glienicker Brücke, die Potsdam mit Berlin verbindet. Bis 1989 war sie somit Teil des Eisernen Vorhangs und Schauplatz von mehreren Gefangenenaustauschen zwischen DDR und BRD, weshalb sie auch als Agentenbrücke bezeichnet wird. Über sie setzen auch wir unseren Weg nach Berlin fort, wobei ich ehrlich zugeben muss, Potsdam unterschätzt zu haben. Den Abend hätte man nämlich nicht unbedingt in Berlin verbringen müssen, denn anders als gedacht hat auch Potsdam dafür genug zu bieten. Die hoch gelobte Bude von Mustafas Gemüse-Döner am Mehringdamm nehmen wir trotzdem gerne mit, ehe es zu später Stunde mit dem ICE zurück nach Ostwestfalen geht.