Samstag, 16. Februar 2019, 16 Uhr
Aubervilliers, Stade André Karman
Mehrgeschossige Sozialbauwohnungen und
herumlungernde Kids aus Afrika säumen auch heute wieder den Weg,
denn es geht erneut hinaus in das Département 93
(Seine-Saint-Denis), das als DAS Problemdépartement Frankreichs
gilt. Zuvor aber steht noch ein kleiner Morgensparziergang durch
Château Rouge an. Es ist die afrikanischte Ecke der französischen
Hauptstadt. Über ganze Straßenzüge hinweg sieht man nur
afrikanische Läden, Wahlplakate aus afrikanischen Ländern (aktuell
Senegal) und auf dem Markt neben der gleichnamigen Métro-Station
geht es wirklich zu wie auf dem schwarzen Kontinent. Tagsüber sind
zu 80 Prozent Schwarze unterwegs, nachts nahezu 100 Prozent. Von
Rechtspopulisten werden Fotos aus Château Rouge gerne dafür
instrumentalisiert, um zu zeigen, dass Paris inzwischen von Migranten
überrannt worden sei. Allerdings beschränkt sich das in dieser extremen Form wirklich nur auf diese drei, vier
Parallelstraßen – und das war schon immer so, nicht erst seit
Beginn der sogenannten „Flüchtingskrise“, bei der sich
Frankreich ja ohnehin vornehm zurückhält. Anders als in Paris
selbst sieht es seit Jahrzehnten in der banlieue aus, was vor allem
für die 93 gilt. Die Einwandererquote ist hier so hoch wie fast
nirgendwo. Hier stranden all die, die in den Kolonien in Afrika und
Asien von einem schönen Leben in Paris geträumt haben und nun wie
in einer Legebatterie in den billig zusammengeschusterten
Plattenbauten leben, die speziell in den 1960er und 1970er-Jahren
(die Zeit also, in der die Kolonien „unabhängig“ wurden)
möglichst schnell die Wohnraumprobleme im Großraum Paris aufgrund
der zunehmenden Einwanderung lösen sollten. Die Probleme sind
aufgrund des französischen Neokolonialismus natürlich hausgemacht.
Wie sagte der kamerunische Autor Enoh Meyomesse, der in Darmstadt im
politischen Exil lebt, über Frankreich einmal so schön: „Ok, dann
akzeptieren wir Afrikaner den Neokolonialismus, aber dann akzeptiert
auch ihr die Migration.“ Über die Schönheit lässt sich
bekanntlich streiten, für die graue Pariser banlieue gilt das ganz
besonders, ich persönlich fühle mich hier aber pudelwohl. Es ist
wie ein Kurztrip nach Afrika und tatsächlich begegnet einem zwischen
den tristen Fassaden deutlich mehr Lebensfreude als in der buntesten
Pariser Gasse. Dass die banlieue und speziell die 93 das wichtigste
Zentrum des französischen Hip-Hops ist, der den gesamten
francophonen Markt von Kanada bis Madagaskar bedient, macht die
Gegend für mich ebenso zu einem unglaublich spannenden Ort dieser
Welt. Aubervilliers (oder wie man hier nur sagt: Auber), dessen
Ortsschild bereits direkt an der Porte de la Villette und damit
direkt an der Pariser Stadtgrenze steht (die Portes stehen für die
früheren Stadttore, an denen sich die Verkehrsführung der
Hauptstadtregion noch heute orientiert), ist mit seinen 80.000
Einwohnern genau solch ein Ort, in dem es außer Sozialbauwohnungen
nicht viel zu sehen gibt. Auffallend hoch ist der Anteil an
Einwanderern aus asiatischen Kolonien, was sich unter anderem dadurch
ausdrückt, dass hier an jeder Straßenlaterne ein chinesischer
Lampion hängt. Besonders markant ist die Cité Lénine mitten in
Aubervilliers. Der kreuzförmig angelegte, nach Lenin benannte (in
Aubervilliers regiert die Kommunistische Partei Frankreichs)
Plattenbau aus dem Jahr 1970 beherbergt 283 Wohnungen und wirkt
beinahe schon brutal. Die Cité Lénine bildet zugleich die Kulisse
für das Stade André Karman, hinter dessen Gegengerade sie sich
auftürmt. Herrlich! Auf der anderen Seite steht eine schon in die
Jahre gekommene Tribüne, auf der – wie in Frankreich – kaum ein
Rentner, dafür aber haufenweise Jugendliche zu finden sind, die
während des Spiels genüsslich an der mitgebrachten Shisha ziehen.
Die Migranten-Quote dürfte sowohl bei den Zuschauern als auch den
Spielern bei gut 80 Prozent liegen. Ebenfalls absolut genial ist,
dass auch der Stadiongrill fest in tunesischer Hand ist, womit schon
beim ersten Blick klar ist, dass es eine Premium-Merguez gibt. Die
Merguez wird zwar von vielen mit Frankreich in Verbindung gebracht,
tatsächlich stammt die würzige Wurst aber aus Nordafrika und wurde
von Einwanderern nach Frankreich mitgebracht. Dort erlebt sie seither
einen Siegeszug als Stadionwurst, was sie aber trotzdem nicht
französisch macht. Dass es die Nordafrikaner noch besser können,
kann man in Aubervilliers eindrucksvoll erleben: Der Grillmeister des
Stade André Karman, stilecht mit einer tunesischen
Club-Africain-Mütze auf dem Kopf, ist wirklich ein absoluter
Fachmann und kreiert ein Produkt, das ich tatsächlich als die beste
Stadion-Merguez Frankreichs bezeichnen würde. Und in deren Genuss
könnte demnächst ein noch größeres Publikum kommen, denn
Aubervilliers ist Tabellenführer der Île-de-France-Liga. Zumindest
noch, denn die völlig überraschende Niederlage gegen Meaux könnte
den Klassenprimus auf Platz 2 zurückwerfen, falls Verfolger Gobelins
am Abend gewinnt. Ob das klappt, werde ich mit eigenen Augen sehen,
denn selbiges Spiel steht ohnehin auf dem Zettel. Es geht also wieder
durch die Hochhausschluchten von Aubervilliers hindurch, vorbei an
Gemüsehändlern, die zum Schutz vor Dieben Netze über die Ware
gehängt haben, um ab der Porte de la Villette die 20-minütige
Straßenbahnfahrt zum Stade Maryse Hilsz in Angriff zu nehmen.
Musik aus Aubervilliers: