Sonntag, 23. Februar 2020, 13 Uhr
Bielefeld, „LVM-Arena“
„Die Blauen“ werden die Fußballer von Arminia Bielefeld genannt und das lässt darauf schließen, dass man nicht immer der Alleinunterhalter in der Stadt war. Denn immer, wenn bei der Benennung eines Vereins eine Farbe ins Spiel kommt, ist das ein klares Indiz dafür, dass es in der Geschichte mindestens einen weiteren Verein gab, der ebenbürtig war. Ein mir vertrautes Beispiel ist natürlich Stuttgart, wo man sogar von einem Dunkelroten bzw. Dunkelblauen spricht, wenn jemand Vereinsmitglied ist. Auch in München redet man von Roten und Blauen (wenngleich sich der Begriff „Löwen“ stärker durchgesetzt hat), in Hannover ist Farbenlehre der Fußballvereine sowieso eine ganz spezielle, während mit Berlin wohl die Ausnahme die Regel bestätigt. Dort ist – historisch betrachtet – die Vereinslandschaft wohl einfach zu vielfältig. Doch zurück nach Bielefeld, wo der VfB von 1903 das Gegenstück zur Arminia bildete. Er wurde damit zwei Jahre vor dem blauen Erzrivalen gegründet, der damit nicht der erste Fußballverein der Stadt war, sich aber von 1905 bis 1919 ganz selbstbewusst 1.Bielefelder FC Arminia nannte. An der Rivalität, die zwischen der Arminia und dem VfB herrschte und herrscht, kann man noch heute die Struktur der Stadt ablesen. Auf der einen Seite die bürgerliche Arminia aus dem reichen Bielefelder Westen, in dessen Mitte die Alm steht und wo es für die feinen Anwohner noch immer der maximale Weltuntergang ist, wenn besoffene Fußballfans vor und nach den Spielen in die Vorgärten pinkeln. Auf der anderen Seite der Arbeiterverein VfB aus den Arbeiterbezirken des Bielefelder Ostens, in denen die Mieten nach wie vor die günstigsten der Innenstadt sind. Ich habe mal die interessante Theorie gehört, dass sich fast überall auf der Welt die Arbeiterviertel im Osten einer Stadt befinden, weil in Europa der Wind meist aus dem Westen kommt und er zu Beginn der Industrialisierung den Rauch aus den Schornsteinen der Fabriken somit stets in den Osten getragen hat, womit die Wohnlage dort die unattraktivste, aber halt auch billigste war. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber in Bielefeld ist es jedenfalls so (und in Stuttgart übrigens auch). Noch heute ragt zwischen den monotonen Mietskasernen im wahrlich nicht schönen Bielefelder Osten immer mal ein Backstein-Schornstein der alten Fabriken hervor. Die Fabriken gibt es nicht mehr, sie wurden abgerissen oder dienen als Garagen, während man die Schornsteine mitunter noch als Mobilfunkmasten nutzt. Aber man kann an ihnen die Geschichte des Viertels ablesen. Sportlich war die Kluft zwischen der blauen Arminia und dem roten VfB in den ersten Jahrzehnten nicht groß und phasenweise stand der VfB sogar vor dem späteren Bundesligisten. Größter Erfolg war das Jahr 1930, als die Roten Westfalenmeister wurden (Arminia landete nur auf Platz 5) und sich über die westdeutsche Meisterschaft für die Endrunde um die deutsche Meisterschaft qualifizierten. Dort hatten sie jedoch großes Lospech und trafen auf den Titelverteidiger Hertha BSC, der in jenem Jahr erneut deutscher Meister wurde und den VfB Bielefeld bereits im Achtelfinale eliminierte. Interessant war das Stadion der Roten, die sogenannte VfB-Kampfbahn, in der der Verein von der Eröffnung 1926 bis zu seinem sportlichen Niedergang Ende der 60er-Jahre spielte. Es befand sich im Bielefelder Osten an der Heeper Straße, bot 15.000 Zuschauern Platz und verfügte über einen – im wahrsten Sinne des Wortes – echten Höhepunkt: den Arminenhügel. Beide Bielefelder Vereine hatten schon früh eine feste Anhängerschaft, so reisten die Arminia-Fans zum Finale der westdeutschen Meisterschaft 1923 erstmals mit einem eigenen Sonderzug an. Mal wieder ein Beweis dafür, dass die Fankultur in Deutschland ihre Wurzeln eben nicht erst in den 70er-Jahren hat. Üblich war es damals unter Arminia-Fans, auch die Spiele in der VfB-Kampfbahn zu besuchen, wo sie sich auf dem Arminenhügel versammelten und grundsätzlich den Gegner der Roten anfeuerten. Umgekehrt ist in der Chronik des VfB Bielefeld nachzulesen, dass es Eltern ihren Kindern im Bielefelder Osten untersagt haben sollen, zu Arminia-Spielen „in den reichen Westen“ zu gehen. Legendär soll es gewesen sein, als sich VfB- und Arminia-Fans bei den Derbys im Winter ausufernde Schneeballschlachten geliefert haben. Die wohl lustigste Anekdote: In den 20er-Jahren, als der VfB die bürgerliche Arminia sportlich überholt hatte, erhielten die Blauen die Anfrage eines Arbeitervereins aus dem Ruhrgebiet, ein Freundschaftsspiel gegeneinander zu bestreiten. Bei der Arminia betrachtete man es als Beleidigung, von einem Arbeiterverein herausgefordert zu werden, und antwortete dem „Proletenclub“ schriftlich, dass man doch „erst einmal Fußball spielen lernen“ sollte, bevor man solche Anfragen stellt. Jener Proletenclub war der zu diesem Zeitpunkt noch recht unbekannte FC Schalke 04, der den frechen Brief aus Bielefeld lange Zeit in seiner Geschäftsstelle hinter Glas ausstellte. Es ist bekannt, was aus dem Arbeiterverein aus dem Ruhrpott geworden ist. Auch in der ostwestfälischen Hauptstadt sah es nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst danach aus, dass der Arbeiterverein und nicht der bürgerliche Verein das Rennen macht, doch Ende der 50er wendete sich das Blatt. 1956 war das letzte Jahr, in dem der VfB eine Liga höher spielte als die Arminia. In jener Zeit verhandelten die Blauen und Roten, die bereits im Zweiten Weltkrieg eine Kriegsspielgemeinschaft bildeten, über eine Fusion, doch zu groß waren jedoch die Vorbehalte des VfB gegenüber der Arminia. Im letzten Moment machten die Roten einen Rückzieher und behielten ihre Eigenständigkeit. Sportlich konnte der VfB nicht mehr an alte Zeiten anknüpfen, geriet finanziell ins Straucheln und musste Ende der 60er schließlich sein Stadion an die Supermarktkette Marktkauf verkaufen, der es abreißen und auf dem Gelände eine weitere Filiale errichten ließ. Der Supermarkt steht noch heute dort. Neue Heimat wurde das 1970 eingeweihte Stadion Rußheide. Das nicht weit entfernt von der VfB-Kampfbahn gebaute Stadion war das erste Leichtathletik-Stadion der Stadt, wurde zu einem Bundesstützpunkt der Leichtathletik und damit kein reines Fußballstadion. Das Stadion Rußheide bot neben dem VfB aber auch einem weiteren Arbeiterverein aus dem Bielefelder Osten eine neue Heimat: Fichte Bielefeld. Der kuriose Vereinsname geht auf den Philosophen Johann Gottlieb Fichte zurück. Der steht in keinerlei Verbindung zu Bielefeld, aber irgendwie ist es typisch Bielefeld, sich nicht nach Goethe oder Schiller zu benennen, sondern nach einem eher unbekannten Philosophen aus der zweiten Reihe. Schon mit dem Einzug von VfB und Fichte in die Rußheide gab es Gespräche über eine Fusion, schließlich besitzen beide als Arbeitervereine aus dem Bielefelder Osten eine ähnliche Struktur und nehmen sich gegenseitig Zuschauer und Sponsoren weg. Es dauerte aber bis 1999, ehe der rote VfB und das grüne Fichte, die beide schon seit Jahren nur noch Fahrstuhlvereine zwischen Verbands- und Landesliga waren, die Fusion zum rot-grünen VfB Fichte Bielefeld vollzogen. Sportlich pendelt der seither zwischen Ober-, Verbands-/Wesfalen- und Landesliga und kann der Arminia damit nicht einmal mehr ansatzweise das Wasser reichen. Dennoch hat der Verein nach wie vor eine feste Anhängerschaft und sogar eine kleine organisierte Fanszene. Das sind zwar nur ein paar wenige Leute, die aber noch immer einen klaren Gegenpol zur Arminia bilden. Politisch steht der Anhang von VfB Fichte klar links und ist so eine Art Miniaturausgabe von TeBe Berlin, vielleicht am ehesten mit der kleinen Fanszene des SSC Tübingen zu vergleichen. Pfiffig ist ein Gesang beim VfB Fichte, mit dem auf den Bielefelder Urkonflikt von Arminia und VfB hingewiesen wird. Dort heißt es: „Im Osten geht die Sonne auf, im Westen geht sie unter.“
Ich selber habe ebenfalls bis ich 13 Jahre alt war im Bielefelder Osten gelebt und durfte einst im Stadion Rußheide bei den Bundesjugendspielen antreten. Jetzt bin ich temporär wieder in meinem alten Viertel gelandet und muss zu meiner großen Freude feststellen, dass es drei Grounds gibt, die ich von meinem Zweitwohnsitz aus zu Fuß erreichen kann. Nein, das Stadion Rußheide gehört nicht dazu, denn das habe ich abgesehen von den Bundesjugendspielen mal ganz amtlich mit einem Testspiel-Derby zwischen der Arminia und dem VfB Fichte gemacht, das jede Sommerpause im Geiste der Tradition im Stadion Rußheide ausgetragen wird. Es fehlt hingegen noch der dortige Nebenplatz. Da auf ihm neben der zweiten Mannschaft des VfB Fichte auch Migrantenvereine spielen, scheint man ihn nicht darauf reduzieren zu wollen, sondern betrachtet ihn als eigenständige Spielstätte mit eigenem Namen. Die Rechte daran hat sich ein Sponsor gesichert, weshalb der Rußheide-Nebenplatz ganz offiziell „LVM-Arena“ heißt. Das klingt so gar nicht mehr nach Arbeiterverein... Neben eben dieser „Arena“ gehören zu den drei mir noch fehlenden, zu Fuß erreichbaren Grounds die Sportplätze Königsbrügge und Wiehagen. Am heutigen Sonntag tritt die lange herbeigesehnte Konstellation ein, dass auf allen drei Plätzen mit den Anstoßzeiten 10.30, 13 und 15 Uhr gespielt wird, so dass der erste reine Zu-Fuß-Dreier meines Lebens realisierbar ist. Los gehen sollte es eigentlich um 10.30 Uhr auf dem Sportplatz Wiehagen. Der sogenannte Gaunerplatz befindet sich hinter dem Bielefelder Straßenstrich und war ursprünglich die Heimat von Fichte Bielefeld. Heute spielt dort unter anderem der kurdische Verein SV Roj Bielefeld, der meinen Plan wenige Tage zuvor jedoch einfach mal in die Tonne kloppt – indem er sich vom Spielbetrieb abmeldet. Der Zu-Fuß-Dreier wird es damit nicht, aber doch immerhin ein Doppler. Bewaffnet mit einem Regenschirm geht es bei Wind, Regen und ekelhaften Temperaturen zu Fuß durch den Stadtteil Sieker hindurch, der maßgeblich den Bielefelder Osten bildet, zur Rußheide. Ostwestfälisches Wetter, bei dem ansonsten niemand Lust auf Fußball hat. Meine Freundin und ich sind die einzigen beiden Zuschauer in der „Arena“, weshalb ein Spieler vom VfB Fichte mit uns beim Warmmachen abklatscht und für unseren Besuch dankt. Wer nicht da ist, verpasst ein sehr ruppiges Spiel, das der Schiedsrichter zwischenzeitlich mal für ein paar Minuten unterbricht, damit sich die Gemüter beruhigen. Es steht sogar ein Abbruch zur Diskussion. Unglaublich, wie blank die Nerven in der untersten Liga liegen können, obwohl es gar keinen Abstieg gibt. Die Unterbrechung kostet uns wertvolle Minuten, so dass wir anschließend den Sportplatz Königsbrügge zu Fuß nicht mehr pünktlich erreichen würden. Glücklicherweise befindet sich in Sieker der Betriebshof der Bielefelder Straßenbahnen, weshalb dies auch für die Linienbusse ein Knotenpunkt ist. Wir kürzen also mit dem Bus ab, was aufgrund des Regens gut tut, womit jetzt aber nicht nur der Dreier, sondern auch der „Zu Fuß“-Charakter des Tages futsch ist.