Deutschland, Wilde Liga Bielefeld
Sonntag, 22. August 2021, 15 Uhr
Bielefeld, Sportgelände an der Radrennbahn – Platz 5
Als ich vor ein paar Wochen beim Freien TSV Ost war und anschließend an der Bielefelder Radrennbahn vorbeifuhr, bin ich ganz schön ins Staunen geraten. Auf dem Areal mit seinen (offiziell) sieben Sportplätzen wurde nämlich Fußball gespielt – und zwar in Trikots. Aber wer soll denn da spielen? Ich habe inzwischen fast alle Sportplätze besucht, die Bielefeld-Komplettierung steht unmittelbar bevor und ich möchte daher behaupten, mich durchaus mit dem Fußball der Stadt auszukennen. Dass dem nicht so ist, beweist meine (völlig fußballfremde) Freundin, die ich sofort darauf anspreche und die trocken antwortet: „Da spielt die Wilde Liga. Weißte das nicht?“ Nee, weiß ich nicht. Und zack, schon eröffnet sich mir eine bis dato unbekannte Welt, die immer spannender wird, je mehr ich mit ihr beschäftige. 1975 wurde die Wilde Liga von Bielefeld gegründet, die damit die älteste Deutschlands ist. Ein paar widerspenstige Studenten der Uni Bielefeld hatten sie ins Leben gerufen und gingen sofort auf Konfrontationskurs. In Anlehnung an die nicht weit entfernte Varusschlacht am Teutoburger Wald zwischen den Römern und Germanen bezeichneten sie sich als „Nachfahren der Cherusker“, die in einem Land leben, das fast vollständig vom DFB besetzt ist, bis auf… naja, wir kennen ja alle Asterix. Die große Schlacht kam dann wirklich ein paar Jahre später, aber nicht gegen die Römer, sondern gegen Arminia Bielefeld. Die Profis nutzen damals nämlich die Radrennbahn als Trainingsstätte und wollten die Sportplätze drumherum, auf denen die Wilde Liga spielt, platt machen und zum eigenen Trainingszentrum ausbauen. Man lieferte sich wohl einen richtigen Krieg mit der Arminia und zerschnitt immer wieder Zäune, um ihr Training zu stören. Sogar der WDR berichtete damals darüber (hier zu sehen). Am Ende siegte tatsächlich die Wilde Liga. Die Stadt teilte der Arminia ein neues Trainingsgelände an der Friedrich-Hagemann-Straße zu, das sie noch heute nutzt, während die Wilde Liga nach wie vor auf den Nebenplätzen der Radrennbahn spielt. Die Nähe zur Uni Bielefeld hat sich die Wilde Liga ebenfalls bewahrt, unter anderem wird im Campus-Radio regelmäßig über sie berichtet. Mittlerweile gibt es sogar einen Kinofilm über die Wilde Liga Bielefeld mit dem Titel „Die Würde des Balles – oder Fußball gegen die Ordnung“ (den Trailer gibt es hier). Auch die Teams kommen weiterhin aus dem Uni-Umfeld und sind oft politisch aktiv. So stellte etwa die Wilde Liga bei der großen Anti-Nazi-Demo 2019 in Bielefeld einen eigenen Block. Den studentischen Charakter merkt man ebenso bei der Organisation, die basisdemokratisch geregelt ist: Es gibt keine Führung, sondern alle Entscheidungen werden von dem sogenannten Liga-Plenum getroffen, in das jedes Team einen Vertreter schicken darf. Allerdings muss man auch sagen, dass sie personell längst nicht mehr die Stärke hat wie in den Anfangsjahren. Einst bestand sie aus drei Ligen mit Auf- und Abstiegssystem (1. Liga = Um die Wurst, 2. Liga = Fahrstuhl, 3. Liga = Souterrain) und einem eigenen Pokalwettbewerb, inzwischen mangels Mannschaften jedoch nur noch aus einer Liga. Die Gretchenfrage ist: Darf der Hopper so etwas zählen? Klar! Gespielt wird über zweimal 45 Minuten, elf gegen elf Spieler und das auf einem normalen Fußballfeld. Es gibt lediglich kleine Details, die sich vom DFB-Spielbetrieb unterscheiden und die als Statement gegen selbigen zu verstehen sind. Wichtigster Punkt: Es wird ohne Schiedsrichter gespielt. Abseits ist immer dann, wenn es der hinterste Abwehrspieler ruft. In strittigen Situationen müssen sich beide Mannschaften selbst einig werden. Sollte es dennoch Streit geben, verliert automatisch die Mannschaft, die zuerst das Spielfeld verlässt. Der Fußball, der auf den Plätzen rund um die Radrennbahn geboten wird, bekommt dadurch natürlich einen ganz anderen Charakter. Man geht auf dem Feld viel freundlicher miteinander um, auf die üblichen kleinen Gehässigkeiten und Taschenspielertricks wird verzichtet. Ein entspannter Gegenentwurf zu dem Fußball, den man kennt. Wäre schön, wenn wir dieses Ein-Verband-System des DFB nicht ewig hätten, zumal das ja nicht immer so war. Man darf nicht vergessen: Bis 1933 wurden nicht nur vom DFB, sondern auch von kirchlichen und Arbeiter-Sportverbänden deutsche Meisterschaften ausgespielt, die ein breites Interesse auf sich zogen. Heute entstehen immer mehr Neugründungen wie Austria Salzburg, Chemie Leipzig, HFC Falke, VfR Heilbronn und 1.FC Pforzheim – und das macht mich optimistisch, dass zumindest langfristig etwas in der Richtung passieren könnte. Und um die Ausgangsfrage noch einmal aufzugreifen: Natürlich halte ich Spiele für zählbar, die nicht unter dem Dach des DFB stattfinden. Unbedingt sogar! Die Spiele der Wilden Liga finden immer sonntags mit den Anstoßzeiten 11 Uhr, 13 Uhr und 15 Uhr statt. Genutzt werden drei der sieben Nebenplätze der Radrennbahn, wobei die Nummerierung der Plätze nicht mit denen auf Europlan übereinstimmt. Theoretisch kann man an einem Sonntag alle drei Wilde-Liga-Plätze machen, allerdings hat man es nicht so mit der Pünktlichkeit. Wir picken uns an diesem ersten Spieltag der neuen Saison eine Partie von zwei Mannschaften mit möglichst exotischem Namen heraus. Gespielt wird auf dem von der Wilden Liga als Platz 2 bezeichneten Feld, das bei Europlan Platz 5 heißt. Rund 30 Minuten später als vorgesehen erfolgt der Anstoß – nicht etwa, weil der Platz noch belegt ist, sondern weil man es einfach nicht so eilig hat. In aller Seelenruhe wird das Tornetz eingehängt, das die Mannschaften selbst mitbringen müssen. Ein Glück, dass die Plätze nicht gekreidet werden, sondern mit kleinen Plastikhütchen abgesteckt wird, sonst wäre es wohl erst zwei Stunden später losgegangen. Mit Arminia Bierfehlt und Laufen soll’n die Anderen treten zwei höchst unterschiedliche Teams gegeneinander an. Arminia Bierfehlt wurde neu gegründet und bestreitet heute das erste Ligaspiel. Entgegen unserer Erwartung nimmt man die Arminia nicht aufs Korn, sondern die durchweg jungen Typen spielen sogar in Arminia-Trikots. Völlig unpassend mit Blick auf die Geschichte der Wilden Liga und dem Krieg, den sie sich in den 80ern mit der Arminia geliefert hat. Ganz anders die alten Haudegen von Laufen soll’n die Anderen, die sich mit LSDA abkürzen, wobei das A als Anarcho-A dargestellt wird und das LSD wohl auf die gleichnamige Droge anspielen soll. Zur Feier des Saisonauftakts fliegt von ihnen zu Spielbeginn erst mal ein grüner Rauchtopf auf die Mitte des Feldes. Es folgen unterhaltsame 90 Minuten mit einem – wie gesagt – ganz eigenem Fußball, wenngleich LSDA den etwas anders verkörpert als die stellenweise zu motivierten Hüpfer von Arminia Bierfehlt. Einziges Manko ist die fehlende Verpflegung, aber die Radrennbahnkiosk ist ja gleich ums Eck.