AVG Villeneuve-la-Garenne – FC Courcouronnes 0:2

Frankreich, Régional 3 – Île-de-France (8.Liga)
Sonntag, 4. Juni 2023, 15 Uhr
Villeneuve-la-Garenne, Stade Gaston Bouillant

Das dritte Spiel des Tages beschert mir heute zum ersten Mal ganz normalen Ligafußball. Ich schmeiße den Leierkasten noch einmal an: Nicht der Spielplan, sondern die DB-Freifahrt hat mich nach Paris gelockt. Es geht wieder hinaus in die banlieue, diesmal in den richtig berüchtigten Teil, denn die gerade die drei Paris direkt umschließenden Départements 92 (Hauts-de-Seine), 93 (Seine-Saint-Denis) und 94 (Val-de-Marne) gelten als besonders berüchtigt. Parallelgesellschaft-Prototypen. Schon in der Schule hat mein Französisch-Lehrer immer gesagt, dass man sich vor allem hüten muss, das mit einer 9 beginnt. Allerdings warne ich davor, das allzu einseitig zu sehen. Frankreich hat eine völlig andere Geschichte als Deutschland und andere europäische Länder. Frankreich war koloniale Großmacht, hatte einst weite Teile der Welt in Besitz genommen, franconisiert, seine Kolonien kulturell voll auf Paris ausgerichtet und die Bildung einer eigenen Kultur erschwert, wenn nicht sogar verhindert. Mal ganz abgesehen von der wirtschaftlichen Ausbeutung und dem Neokolonialismus (etwa durch den nach wie vor dominanten Einfluss der französischen Nationalbank auf die Währungen der ehemaligen Kolonien in Afrika) hat diese Franconisierung zur Folge, dass französisches Fernsehen, PSG und all diese Rattenschwänze für viele Menschen in den ehemalige Kolonien der ganz heiße Scheiß sind. Seit 200 Jahren erzählt man den Leuten dort, dass nichts so großartig wie Frankreich ist – und dass Paris der Mittelpunkt der Welt ist. Da darf man sich dann aber auch nicht wundern, wenn die Leute nach Frankreich und insbesondere nach Paris kommen. Nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen. Und darum ist die Migration in Frankreich ein ganz eigenes Kapitel und überhaupt nicht mit der Situation zum Beispiel in Deutschland zu vergleichen. Oder um es mal ganz radikal zu sagen: Menschen aus den ehemaligen französischen Kolonien sind in Frankreich keine Ausländer, sondern sie sind Teil Frankreichs, seiner Kultur und vor allem seiner Geschichte. Meinem früheren Französisch-Lehrer möchte ich daher zurufen: Vor Départements, die mit 9 beginnen, hüte ich mich nicht, sondern ich bin in ihnen besonders gerne, weil sie einen Teil der französischen Kultur abbilden, der mich viel mehr interessiert als der Eiffelturm oder das Schloss in Versailles. Mein Ziel an diesem Nachmittag ist Villeneuve-la-Garenne im Département 92. Mit dem Stade Gaston Bouillant steht hier ein Stadion, das nicht besser in die banlieue passen könnte: Haupttribüne, an der schon der Putz abblättert, umgeben von lauter Sozialbauten und unter den Zuschauern fast ausschließlich Jugendliche aus den früheren Kolonien, die durchgehend kiffen. In solch einer Gegend gibt es in der Regel die beste Merguez und daher ist die Vorfreude bei mir groß, als ich den qualmenden Grill sehe. Leider hat man beim Einkauf nicht gut kalkuliert und die marokkanische Bratwurst ist nicht in ausreichender Stückzahl vorhanden. Völlig unmöglich, an eine heranzukommen, wenn man dem Grillmeister nicht bekannt ist – denn hier sind Kontakte entscheidend und nicht, dass man schon seit zehn Minuten in der Warteschlange steht. So läuft’s halt in der banlieue. Überraschenderweise gibt es aber nicht nur Merguez und so bleibt mir als Trostpreis immerhin ein Croque Monsieur. Die Pechsträhne setzt sich nach Spielende fort, denn eigentlich war noch ein viertes Spiel geplant – in Villetaneuse. Das wird wegen Nichtantritt des Gegners aber nicht angepfiffen. Für mich sehr ärgerlich, denn nur aufgrund dieses Spiels fahre ich nicht schon heute Abend zurück nach Hause, sondern nehme erst am morgigen Montagmorgen den ersten TGV nach Stuttgart und muss mir somit noch für eine weitere Nacht ein Hotel in Paris nehmen. Merde!