UEFA Conference League (Gruppenphase)
Donnerstag, 4. November 2021, 18.45 Uhr
Gibraltar, Victoria Stadium
Am Morgen geht es von Sevilla zurück zum Flughafen Málaga, um den Mietwagen zurückzugeben, und mit dem Bus direkt weiter nach Gibraltar. Die Busse der Gesellschaft Avanza fahren direkt vor dem Flughafengebäude ab, kosten um die 15 Euro, fahren mehrmals am Tag und brauchen für die Strecke etwa zwei Stunden. Direkt bis Gibraltar kommt man allerdings nicht, sondern nur bis La Línea de la Concepción, dem letzten spanischen Ort vor Gibraltar. Der Busbahnhof von La Línea befindet sich aber nicht weit von der Grenze entfernt. Die Geschichte von La Línea ist eng mit der von Gibraltar verbunden, denn gegründet wurde der Ort mit seinen heute gut 60.000 Einwohnern vor knapp 300 Jahren von den Spaniern nur deshalb, damit sich das britische Gibraltar nicht weiter ausdehnen kann. La Línea ist also hauptsächlich eine Linie, die man den Briten gesetzt hat – daher auch der Name der Stadt. Da dort alles günstiger ist als in Gibraltar, insbesondere die Hotels, wird La Línea meine Basis für die nächsten 48 Stunden. Ich habe ja ohnehin ein Faible für solche speziellen Orte. Das Zentrum von La Línea, von wo aus man den berühmten Felsen von Gibraltar immer im Blick hat, ist ganz nett mit einigen Restaurants und Bars. Sowieso momentan, denn es läuft eine Restaurant-Nacht, an der sich gefühlt jeder Einwohner beteiligt. Im Prinzip geht es dabei um Restaurant-Hopping: Man bleibt ein halbes Stündchen in einem Laden, isst etwas, holt sich dafür einen Stempel ab und zieht dann weiter. Ziel ist es, möglichst viele Stempel zu sammeln. Resultat ist, dass jedes Restaurant überfüllt ist. Abseits vom Zentrum hat La Línea dagegen schon wirklich krass abgefuckte Ecken. La Línea hatte in den vergangenen Jahren eine Arbeitslosenquote von 40 Prozent und war damit einer der Spitzenreiter Spaniens. Inzwischen hat man sie wohl auf 30 Prozent drücken können, womit sie aber immer noch absurd hoch ist. Vor allem die Nähe zu Marokko ist ein Problem, denn La Línea gilt als einer der Hauptumschlagsplätze für Haschisch. Es wird geschätzt, dass jede Nacht bis zu zehn Schnellboote von Marokko kommend über die Straße von Gibraltar fahren und an den Stränden von La Línea anlegen. Ganze 30 Clans mit jeweils rund 100 Mitgliedern soll es in der Stadt geben, die sich dann um den Weitertransport in die EU kümmern. Heile Welt dagegen, wenn man den Grenzübergang zu Gibraltar hinter sich lässt – so wie es täglich die meisten Einwohner von La Línea machen, die in der britischen Enklave ihren Lebensunterhalt verdienen. Spanien hat den Gastarbeitern von La Línea sogar ein eigenes Denkmal direkt an den Grenzübergang gesetzt. Der Grenzübertritt war für mich dagegen im Vorfeld das ganz große Fragezeichen dieser Tour, denn online war nur die Information zu finden: Für Gibraltar gelten bei der Einreise die gleichen Regeln wie für England. Das bedeutet, dass man nur einreisen darf, wenn man sich vorab einen Corona-Test in Gibraltar bucht. Worum es natürlich eigentlich geht: Wenn man ihn vorab bezahlt. Beim Einchecken in meinem Hotel in La Línea daher sofort die Frage an der Rezeption, wie das mit der Einreise nach Gibraltar aussieht. Dort schaut man mich mit großen Augen an und fragt, ob ich denn keinen Ausweis hätte. Den müsse ich einfach vorzeigen und fertig. Und tatsächlich: Entgegen der Ankündigungen im Internet funktioniert der Grenzübertritt wie vor Corona. Aufgrund der hohen Zahl an spanischen Gastarbeitern, die täglich nach Gibraltar kommen, ist das ja aber auch völlig logisch. Sinnbildlich dann die Beamten auf beiden Seiten: Auf spanischer Seite steht ein grimmiger Typ der Guardia Civil mit Sonnenbrille auf der Nase an der Grenze und prüft die Ausweise von Hand, weil das Lesegerät kaputt ist. Auf der anderen Seite wartet hingegen ein freundlich lächelnder Bobby, der den Ausweis in sein perfekt funktionierendes Lesegerät schiebt und schließlich strahlt: „Welcome to Gibraltar.“ Und sofort ändert sich schlagartig die Atmosphäre. Gibraltar gehört seit 1713 zu Großbritannien und musste als Folge des Spanischen Erbfolgekrieges von Spanien abgetreten werden. Großbritannien hat Gibraltar also friedlich erobert, was jedoch nichts daran ändert, dass der strategisch so wichtige Felsen, der nicht nur Europa und Afrika, sondern auch Mittelmeer und Atlantik trennt, seit über 300 Jahren ein Zankapfel ist. Spanien beansprucht Gibraltar für sich und lässt sich immer wieder Schikanen einfallen. Besonders beliebt: Die Grenzkontrollen in die Länge ziehen oder die Grenze auch ganz schließen, wie es zu Zeiten der Franco-Diktatur der Fall war. Mit größter Spannung wurde daher die Brexit-Abstimmung verfolgt, an der auch Gibraltar teilnahm und mit fast 90 Prozent für den Verbleib in der EU stimmte. Hilft natürlich nichts, wenn der Rest Großbritanniens dagegen stimmt. Inzwischen wurde jedoch eine Lösung zwischen Spanien und Schengen-Mitglied Gibraltar gefunden. Dass Gibraltar in seiner Geschichte vor allem strategische Zwecke hatte, merkt man recht schnell, denn im Grunde ist die Stadt eine große Festungsanlage, zwischen deren Mauern sich das öffentliche Leben entwickelt hat. Ein sehr interessanter Mix aus alten Militäranlagen, Kolonialgebäuden und modernen Hochhäusern. Und dann kommt natürlich immer noch dieser völlig absurde Fakt hinzu, hier im äußersten Süden Spaniens ein Stück British Empire zu haben – mit allem, was dazugehört. Einzige Ausnahme: In Gibraltar herrscht Rechtsverkehr. Und auch beim Geld hat man sich nicht so, denn es kann eigentlich überall auch mit Euro bezahlt werden. Man hat ja sowieso eigentlich überall mit spanischen Gastarbeitern und nicht mit Briten zu tun, weshalb man auch auf der Straße überwiegend Spanisch hört. Klare Empfehlung ist, sich für 9 Euro das Tagesticket für den Bus zu holen, das den schönen Namen Hopper Ticket hat. Man kann Gibraltar zwar auch zu Fuß entdecken, es zieht sich aber ganz schön in die Länge – mehr als es auf der Karte wirkt. Allerdings empfehle ich auch, nicht gleich am Grenzübergang in den Bus zu steigen, denn dann verpasst man eines der Highlights von Gibraltar: der Flughafen, der sich zwischen Grenzübergang und Stadt befindet. Aus Platzmangel musste die Start- und Landebahn so gebaut werden, dass die Hauptstraße über sie führt. Wenn kein Flugbetrieb ist, fahren somit ganz normal Autos und Busse quer über die Start- und Landebahn. Und auch Fußgänger gehen dann über sie, was schon ein irres Gefühl ist. Ist jedoch ein Flugzeug im Anmarsch, gehen die Schranken runter und man muss warten. Das eigentliche Highlight im wahrsten Sinne des Wortes ist aber ganz klar der 426 Meter hohe Felsen von Gibraltar, der nur „the Rock“ genannt wird. Man hat von seiner Spitze nicht nur einen fantastischen Ausblick bis nach Afrika, sondern er wird von freilebenden Berberaffen bewohnt. Hinauf auf den Felsen geht es per Seilbahn (17 Pfund für die Berg- und Talfahrt) und dann kommt man direkt mit den Affen in Kontakt. Das muss nicht unbedingt positiv sein, wie eine sächsische Familie erlebt, die mit mir zusammen in der Gondel ist. Der Vater hat ein Sandwich in der Tasche, was die Affen sofort wittern und unmittelbar zum Angriff ansetzen. Ich bin noch gar nicht aus der Gondel ausgestiegen, da hat sich ein Affe schon eine Plastiktüte des Vaters geschnappt und sie in Fetzen zerrissen. Dumm nur, dass nicht etwa das Sandwich in der Tüte war, sondern mehrere Stangen Zigaretten, die im Steuerparadies Gibraltar wesentlich günstiger sind als in Spanien. Und so sieht man nur noch, wie all die Zigaretten den Felsen hinunterpurzeln. Bei der Familie ist die Laune natürlich absolut im Keller, aber da die Affen immer noch nicht das Sandwich haben, geht der Spaß weiter. Nach ein paar Minuten, in denen die Familie keine 30 Meter weit gekommen ist und die Kinder nur noch heulen, wird das Sandwich freiwillig ausgehändigt. Aufpasser oder dergleichen gibt es hier oben nicht, die Affen genießen absolute Narrenfreiheit. Das ist auch so gewollt, denn sie gelten als Glücksbringer der Briten. Es heißt: So lange Affen auf dem Felsen leben, wird Gibraltar britisch bleiben. Man tut daher alles dafür, die Population zu erhalten. Problematisch wurde es nur im vergangenen Jahr, denn zu Beginn der Corona-Pandemie war die Grenze zu La Línea für Wochen geschlossen und es waren keine Touristen in Gibraltar. Auf dem Felsen herrschte damit gähnende Leere. Die Affen trauten sich daher immer weiter nach unten, nicht nur aus Neugier, sondern sie waren ohne das (verbotene) Füttern durch die Touristen hungrig. Als sie anfingen, über einen Schulhof zu laufen und Kinder zu attackieren, zogen dann selbst die affenfreundlichen Briten Maßnahmen in Erwägung.
Nach zwei wirklich schönen Tagen in Gibraltar wird‘s dann aber Zeit für den Hauptgrund, in der britischen Enklave aufgeschlagen zu sein: Fußball. Die Gibraltar Football Association ist seit 2014 Mitglied der UEFA, weshalb ihre Vereine seitdem auch an den europäischen Clubwettbewerben teilnehmen. Ein Länderpunkt ist Gibraltar für mich dennoch nicht. Warum? Zum einen steckt die Erklärung ja schon im Namen: Ich sammel Länderpunkte, keine Verbandspunkte – und Gibraltar ist kein Land. Zum anderen muss man an dieser Stelle in Erinnerung rufen, dass England, Schottland, Wales und Nordirland ja nur deshalb den Sonderstatus genießen, eigene nationale Verbände zu sein, weil sie sonst vor knapp 120 Jahren nicht der Gründung der FIFA zugestimmt hätten. Das Mutterland des Fußballs ließen sich das teuer bezahlen – nicht nur, indem seine Regionalverbände den Status nationaler Verbände erhielten, sondern obendrauf bilden sie bis heute zur Hälfte das ISAB (International Football Association Board) der FIFA, das über die Fußballregeln entscheidet. Beides ein Unding, das in den vergangenen Jahrzehnten zumindest mal auf den Prüfstand gehört hätte. Für mich ist das allerdings gewiss kein Grund, die britischen Regionalverbände und damit auch Gibraltar als Länderpunkt zu zählen. Aber: Das ist natürlich kein Grund, einen Bogen um Gibraltar zu machen, zumal Europapokal ja immer interessant ist. Erst recht, wenn man die Gelegenheit hat, bei einem neuen Wettbewerb gleich in der ersten Saison dabei zu sein. Tja, die Conference League, was soll man dazu sagen? Prinzipiell natürlich eine spannende Sache, weil dort insbesondere Mannschaften aus der zweiten und dritten Reihe aufeinandertreffen, die man hauptsächlich sehen will – und nicht Real Madrid, Manchester City und dieser ganze Mist. Andererseits bin ich aber auch der Meinung, dass selbst die Europa League schon Quatsch ist und international eigentlich nur Meister und Pokalsieger antreten sollten. Da kann ich einer Conference League erst recht nichts abgewinnen. Letztendlich sehe ich es notgedrungen pragmatisch und freue mich über Europapokalspiele, die man sonst allenfalls in den Quali-Runden zu sehen bekommt. Gibraltars Rekordmeister Lincoln Red Imps hat in der Premierensaison des neuen Wettbewerbs eine richtig interessante Vorrundengruppe bekommen und wenn man bedenkt, dass auch PAOK und der FC Kopenhagen dabei sein, ist Slovan Bratislava da schon der unattraktivste der drei Gegner – aber natürlich weit besser als Gegner aus Finnland, Luxemburg oder Wales. Wie alle Mannschaften aus Gibraltar tragen die Lincoln Red Imps ihre Spiele im Victoria Stadium nahe des Flughafens aus. Es ist zwar nicht das einzige Stadion der Enklave, aber das einzige mit vernünftigem Ausbau. Gegründet wurde der Rekordmeister erst 1976 und erhielt seinen Namen vom früheren Sheffield-United-Vorsitzenden Reg Brealey, der in Gibraltar Urlaub machte und dabei das Team kennenlernte. Brealey, der in der englischen Stadt Lincoln lebte und Fan des dortigen Vereins Lincoln City war, beschloss, als Sponsor einzusteigen. Im Gegenzug gab sich der Verein seinen heutigen Namen und übernahm weitgehend das Wappen von Lincoln City. Daran merkt man schon: Viel ist mit dem Fußball in Gibraltar nicht los. Und viel ist auch nicht auf den Tribünen los, nicht einmal bei Europapokalspielen. Das mag anders sein, wenn ein englischer oder schottischer Verein hier spielt, aber gegen Slovan Bratislava herrscht gähnende Leere. Selbst im Gästeblock ist nicht allzu viel los. Schade, denn ich hatte nachmittags noch eine 15-köpfige Gruppe Slovan-Fans oben auf dem Felsen gesehen und mich schon gefreut, dass wohl noch einige Slowaken unten in der Stadt sind. Da war mir leider nicht klar, dass das nicht die Spitze vom Eisberg, sondern schon der ganze Eisberg war. Support kommt im Gästeblock nicht wirklich zustande, was aber wohl am Alkoholpegel zu liegen scheint. Da kann kaum jemand gerade stehen – obwohl das Bier in Gibraltar alles andere als günstig ist. Wesentlich häufiger als Gesang gibt es Diskussionen mit den Ordnern, wobei nicht ganz ersichtlich ist, was genau der Stein des Anstoßes ist. Da bleibt einem selbst ja gar nichts anderes übrig, als ebenfalls zum Plastikbecher zu greifen. Offiziell werden zwar auch im Stadion nur Pfund akzeptiert, aber da die Dame am Bierstand natürlich Spaniern ist, kommt man ins Geschäft. Tarif: 3,50 Pfund oder 5 Euro. Eigentlich sage ich nur zum Spaß, dass ich ihr jetzt 20 Euro gebe und sie sofort mit dem Zapfen anfangen soll, sobald ich von meinem Platz aufstehe, doch der Euro-Schein wird sofort eingesteckt und der Flatrate-Deal ist damit perfekt. Überaus nett übrigens auch die (spanischen) Ordner, denn Eintrittskarten werden ausschließlich online verkauft und übers Smartphone eingescannt, also komplett papierlos. Leider klappte der Kauf mit meiner deutschen Kreditkarte nicht, weshalb kurzerhand der Ordner am Eingang das Ticket für mich online ordert. Den Code einfach mit meinem Handy von seinem Handy abfotografiert, 20 Euro fürs 15-Pfund-Ticket gegeben und fertig ist die Laube. Schade ist nur, dass die Dunkelheit recht schnell hereinbricht und somit der wunderschöne Blick von der Tribüne auf den Felsen von Gibraltar verschwindet. Trotzdem ein herrlicher Fußballabend unter provisorischem Flutlicht. Zusammen mit den rotzevollen Slowaken, die ebenfalls in La Línea Quartier bezogen haben, geht es nach Abpfiff zurück über die Grenze. Einer der Slovan-Fans ist dabei derart besoffen, dass er auf der Start- und Landebahn des Flughafens liegenbleibt. Keine Ahnung, ob am Abend noch Flugbetrieb herrscht und wie man das löst, aber das ist schon eine starke Nummer.