Griechenland, Super League (1.Liga)
Mittwoch, 4. Januar 2023, 20 Uhr
Thessaloniki, Stadio Toumba
Knapp zwei Wochen bin ich dieses Mal in Griechenland, wobei der Schwerpunkt wie erwähnt auf Saloniki liegt. In zweitgrößten Stadt Griechenlands (mit Vororten ca. 1 Mio. Einwohner) klappere ich an den fußball- und sportfreien Tagen dieser Tour im Prinzip alles ab, was man besuchen kann. Ich will die Tage an dieser Stelle kurz zusammenfassen: Will man die besondere Stadtgeschichte Salonikis verstehen, das einst als Jerusalem des Balkans galt, lege ich drei Orte ans Herz, die man besuchen sollte – das jüdische Museum, das Geburtshaus Atatürks und die Rotunde am Galeriusbogen. Saloniki war immer eine Vielvölkerstadt. Bis zum Ersten Weltkrieg und insbesondere bis zum unmittelbar darauffolgenden Türkisch-Griechischen Krieg, durch den eine Millionen Griechen aus der Türkei und eine halbe Million Türken aus Griechenland vertrieben wurden, hatte Saloniki eine nicht unbedeutende türkische Minderheit, schließlich gehörte die Stadt bis 1912 zum Osmanischen Reich und wurde somit erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg Griechenland zugeschlagen. Da Saloniki 1913 zu weiten Teilen von einem Großbrand zerstört wurde, der 32 Stunden lang wütete, gibt es in der Stadt heute kaum noch historische Gebäude. Dementsprechend deutet nur noch wenig auf die türkische Vergangenheit hin. Ein Beispiel ist der zentral gelegene Kapani-Markt und vor allem die nicht weit davon entfernte Rotunde, die zum UNESCO-Welterbe gehört. Sie wurde bereits 306 nach Christus gebaut und 1509 von den Türken zur Moschee umgewandelt, weshalb über ihrem Eingang nach wie vor arabische Schriftzeichen zu sehen sind. Als Saloniki 1912 griechisch wurde, wurde sie umgehend zur Kirche umgewidmet. Sie ist also sozusagen das Gegenstück zur Hagia Sophia in Istanbul, die einst die größte Kirche der Welt war und nach der Eroberung von den Türken zur Moschee umgewandelt wurde. Istanbul (oder Konstantinopel, wie es die Griechen bis heute nennen) hatte bis zum Türkisch-Griechischen Krieg eine große griechische Minderheit, die dort mit Hermes auch einen eigenen Fußballverein hatte. Mit der Vertreibung der Griechen aus Istanbul wurde auch Hermes vertrieben, aber in Griechenland gleich zweimal neu gegründet – 1924 als AEK in Athen und 1926 als PAOK in Saloniki. Das K steht jeweils für Konstantinopel. Bei beiden Vereinen ist daher die Hagia Sophia ein gerne verwendetes Motiv. Es gibt einige weitere ursprünglich aus der heutigen Türkei stammende griechische Vereine, die nach dem Türkisch-Griechischen Krieg in den 1920er-Jahren in Griechenland neu gegründet wurden. Prominente Vertreter sind die ehemaligen Erstligisten Panionios aus Nea Smyrni und Apollon Smyrni, beide ursprünglich aus Izmir (auf Griechisch: Smyrni). Mit dem Patriarchen von Konstantinopel sitzt auch nach wie vor das Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche in Istanbul, weshalb einige Griechen nicht Athen, sondern Istanbul als eigentliche Hauptstadt Griechenlands betrachten. Aktuell ist in der Rotunde eine überaus interessante Ausstellung über den Türkisch-Griechischen Krieg und seine Folgen zu sehen, worauf dann auch meine Empfehlung für einen Besuch fußt. Beschrieben wird dort, wie die griechischen Flüchtlinge in Saloniki ankamen und wo sie sich niedergelassen haben. Eine dieser Flüchtlingssiedlungen ist Toumba, in der das 1959 eröffnete PAOK-Stadion steht. Allerdings muss man sagen, dass die Ausstellung in der Rotunde sehr interessant, aber halt auch sehr griechisch gefärbt ist. Es wird ganz klar der Türkei die Schuld am Krieg gegeben und Griechenland habe nur die christliche Bevölkerung in der Türkei schützen wollen. Tatsächlich aber wollte Griechenland die Megali Idea (Große Idee) umsetzen und ein Großgriechenland schaffen, zu dem alle griechischen Siedlungsgebiete gehören. Denn: Bis 1821 gehörte ganz Griechenland zum Osmanischen Reich und erst Stück für Stück wurde die Unabhängigkeit erlangt. Bis 1864 reichte Griechenland nur bis zum heutigen Mittelgriechenland, ehe 1864 die Ionischen Inseln (u.a. Korfu), 1881 Thessalien und 1912/13 Makedonien mit Saloniki sowie Kreta und die Inseln in der östlichen Ägäis dazukamen. Da das Osmanische Reich an der Seite von Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte und somit geschwächt war, wollte Griechenland 1919 die Gunst der Stunde nutzen, die Megali Idea fortführen und sich Konstantinopel/Istanbul schnappen. Da kann man also nicht unbedingt von „Verteidigung der christlichen Bevölkerung“ sprechen, wenngleich die aufbegehrende griechische Minderheit in der Türkei damals durchaus mit Repressionen zu kämpfen hatte. Wobei die Gegenthese ist, dass diese nur eine Reaktion auf den erwachenden Nationalismus der Griechen in der Türkei war. Griechenland verlor jedoch den Türkisch-Griechischen Krieg und konnte somit nicht die Gebiete an der westtürkischen und an der Schwarzmeer-Küste erobern. Die Megali Idea konnte dagegen 1947 fortgesetzt werden, als Griechenland die Dodekanes-Inseln (u.a. Rhodos) vor der westtürkischen Küste bekam, die bis dahin auch eine türkische Minderheit hatten. Danach gab es nur noch eine Insel, die der Konflikt nicht erreicht hatte und auf der Türken und Griechen weiter zusammenlebten: Zypern. Doch als in Athen die rechte Militärjunta putschte und die Macht ergriff, wurde ein letztes Mal ein Versuch gestartet, die Megali Idea umzusetzen und Zypern zu erobern, was 1974 zum Zypernkrieg führte. Seither leben Türken und Griechen getrennt durch eine von UN-Truppen geschützte entmilitarisierte Pufferzone auf der Insel. Dass Türken und Griechen aber mal friedlich zusammengelebt haben, zeigt das Atatürk-Haus in Saloniki, in dem 1881 Mustafa Kemal Pascha geboren wurde, der als Offizier im Türkisch-Griechischen Krieg eine entscheidende Rolle spielte, 1923 erster Präsident der neuen Türkei wurde und sich seitdem Atatürk (Vater der Türken) nannte. Sein Geburtshaus steht nicht weit weg von der Rotunde und befindet sich im Besitz der Republik Türkei. Es ist eine Hochsicherheitszone, geschützt von griechischen Polizisten (vor dem Gebäude), türkischen Polizisten (im Gebäude) und hohen Mauern. Man weiß ja um den absurden Personenkult, der um Atatürk in der Türkei betrieben wird, und nicht anders ist es hier im Atatürk-Haus. Anders als drüben in der Rotunde sind es nun die Türkei und Atatürk, die die Großartigsten sind. Zu sehen sind altes Besteck, mit dem Atatürk als Kind gegessen hat, seine Zeugnisse und Stühle, auf denen er gesessen hat. Und natürlich ist der Punkt markiert, an dem er das Licht der Welt erblickt hat – wie bei einem Messias. Richtig interessant sind die alten Fotos, die im Atatürk-Haus hängen, denn auf ihnen sieht man, wie viele Minarette früher in Saloniki in den Himmel geragt haben. Ähnlich ist es auf einem großen Foto in der Rotunde, das die Trümmer nach dem Stadtbrand von 1913 zeigt und auf dem ebenfalls noch viele Minarette zu sehen sind. Der dritte Ort, den ich ans Herz legen möchte, ist das jüdische Museum. Zwar lebten Türken und Griechen zusammen in Saloniki, die Bevölkerungsmehrheit stellten aber immer Juden, woher dann auch der Name Jerusalem des Balkans stammt. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg war über die Hälfte der 100.000 Einwohner jüdisch. Zerstörte jedoch 1913 der Großbrand das Aussehen der Stadt, vernichtete Nazi-Deutschland nach seinem Einmarsch in Saloniki auch die eigentliche Kultur der Stadt. Nur knapp 2.000 der vor dem Einmarsch noch 55.000 jüdischen Einwohner Salonikis überlebten den Holocaust. Das jüdische Museum zeigt sehr eindrucksvoll die Geschichte der Juden von Saloniki, wo bis zum Zweiten Weltkrieg rund 40 Synagogen standen und wo es mit Maccabi auch einen eigenen jüdischen Sportverein gab. Gezeigt werden aber auch sehr eindrucksvolle Fotos und Karten, auf denen etwa die von den Nazis eingerichteten riesigen Ghettos von Saloniki eingezeichnet sind. Wer sich wirklich für die Geschichte von Saloniki interessiert, kommt an diesem Museum nicht vorbei! Auch im Fußball kommt man nicht an der Geschichte und insbesondere den Folgen des Türkisch-Griechischen Krieges vorbei. Und so erklärt sich dann auch, warum das Stadtderby zwischen Aris und PAOK eigentlich gar kein Stadtderby ist, denn PAOK ist ein Verein aus Konstantinopel/Istanbul, während das 1914 gegründete Aris quasi ein alteingesessener Verein Salonikis ist, der sich ursprünglich als Vielvölker-Verein für alle Einwohner verstand. Zwar hassen sich beide Vereine ohne Ende, aber nach meinem Gespür ist das Derby zumindest für PAOK nicht das wichtigste Spiel, weil der Hass auf Olympiakos Piräus noch ein Stück größer ist. Vielleicht hat es ja wirklich etwas damit zu tun, dass PAOK sich im Herzen als ein Verein aus Konstantinopel und damit als eigentlicher Hauptstadtverein betrachtet. Man blickt auf Athen hinab und als griechischer Rekordmeister ist Olympiakos Piräus nun mal DAS Synonym für die Hauptstadt, die man nicht als Hauptstadt anerkennt. Trotzdem: Das Derby zwischen PAOK und Aris ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Das merkt man schon allein daran, dass es zu jenen Spielen gehört, die nicht mehr von griechischen Schiedsrichtern geleitet werden, sondern eigens ein Gespann aus dem Ausland – in diesem Fall aus Ungarn – eingeflogen wird. Ebenso sind natürlich keine Gästefans zugelassen. Man braucht auch gar nicht darauf zu hoffen, dass sich an der Praxis etwas ändern wird. Das wird auch in den kommenden Jahrzehnten so bleiben. Der Trend geht in Griechenland eher in die andere Richtung, nämlich dass bei den Spielen, bei denen Gästefans eigentlich erlaubt sind (also im Europapokal und im nationalen Pokalfinale), die Einschränkungen weiter zunehmen. Doch auch ohne Gästefans ist die Polizei am Stadion in Toumba massiv präsent. Im Stadion dann ein Derby, wie man es sich vorstellt. Nicht mein erstes Derby in Saloniki, aber eindeutig das, bei dem am meisten Pyrotechnik eingesetzt wird. Eigentlich brennt es ständig irgendwo im Stadion, aber ganze 3x brennt das Gate 4 wirklich lichterloh. An einem aufgestellten Bildschirm kann man die TV-Übertragung sehen. Die dortigen Bilder aus dem Hubschrauber heraus sind absolut fantastisch. Da nur die Haupttribüne überdacht ist, wirkt das Stadion wie ein qualmender Kochtopf. Und genau das erwarte ich von PAOK. Choreos und Schwenkfahnen passen aus meiner Sicht nicht zu diesem Verein. Eine knallvolle Kurve voller schwarz gekleideter Leute, massenhaft Zaunfahnen mit allen größeren Orten Nordgriechenlands darauf, brachiale Lautstärke und reichlich Pyrotechnik – genau das ist für mich PAOK. Und genau dieses PAOK gibt es heute in Reinform zu sehen. Ich bin absolut begeistert! Erwähnenswert ist, dass die Frankfurter PAOK-Fahne heute sehr zentral vor dem Gate 4A hängt. Das Gate 4A ist quasi ein eigener Block innerhalb des Gate 4, gelegen ganz am Rand zur Gegengerade hin. Hier befindet sich der Stimmungskern, hier steht die 1976 gegründete Hauptgruppe Gate 4 und hier stehen auch die wichtigsten Fanclubs (insbesondere aus Kordelio, dem westlichsten Vorort von Saloniki). Die deutschen Fanclubs spielen eine wichtige Rolle in der PAOK-Szene, schließlich dürfte kein anderer griechischer Verein so derart viele Fans im Ausland und speziell in Deutschland haben. Der Norden ist nun mal die ärmste Gegend in Griechenland, von dort gab es somit die meisten Auswanderer und dort sind die meisten Leute PAOK-Fans. Dass Fahnen von deutschen Fanclubs bei PAOK hängen, ist nicht außergewöhnlich – gerade jetzt in der Urlaubs- und Ferienzeit. Aber dass die Frankfurt-Fahne dann an so prominenter Stelle hängt, ist schon spannend. Ich bin auf jeden Fall mal wieder total begeistert nach diesem Derby und lasse den Abend im Ausgehviertel Ladadika ausklingen. Was für herrliche Tage in Saloniki!