Donnerstag, 12. März 2020, 20.15 Uhr
Bad Oeynhausen, Stadion Mindener Straße
Am 12. März 2020 einen Spielbesuch planen... Da fühlt man sich ein bisschen wie ein verzweifelter General in der letzten, aussichtslosen Schlacht eines Krieges, der in seinem Kommandostand auf der Landkarte Truppenteile verschiebt, die in der Realität gar nicht mehr existieren. Der Gegner: Corona. Schauplatz dieser letzten Schlacht sollte eigentlich das Ruhrgebiet sein, wo am Abend der FC Brünninghausen im Dortmunder Kreispokal den ASC Dortmund empfängt. Die am Vormittag gestellte Anfrage, ob das Spiel a) stattfindet und b) vor Zuschauern, kann der FC Brünninghausen gegen 10 Uhr noch positiv beantworten. Unter anderem heißt es in der Antwort: „Natürlich sind auch wir aufgrund der aktuellen Entwicklungen besorgt, gehen aber davon aus, dass der Zuschauerzulauf nicht die Grenze von 1.000 Personen überschreitet, so dass die Veranstaltung stattfinden kann. Sollte es unerwarteterweise doch noch zu behördlichen Einschränkungen oder einer angeordneten Absage kommen, werden wir dies auf unseren Kanälen natürlich schnellstmöglich veröffentlichen.“ Zumindest muss man mal festhalten: Die Lage ist nun auch in Westfalen deutlich ernster, denn während 24 Stunden zuvor der VfL Oldentrup noch völlig irritiert die Gegenfrage gestellt hatte, warum sein Spiel denn nicht stattfinden sollte, kann man sich diese Erklärung nun sparen. Und man merkt, dass ich nicht der Erste und auch nicht erst der Zehnte bin, der sich beim FC Brünninghausen erkundigt, ob das Spiel denn stattfindet. Um Punkt 13.52 Uhr muss der Verein dann aber zurückrudern: Mit dem „unerwarteterweise“ war man wohl etwas vorschnell. Das Spiel findet statt, jedoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ein Geisterspiel im Dortmunder Kreispokal. Spätestens ab jetzt ist klar, dass die Rahmenbedingungen völlig auf den Kopf gestellt sind. Nichts ist mehr wie vorher. Das bedeutet auch: Der 12. März 2020 wird mit Sicherheit der vorerst letzte Tag sein, an dem man in Deutschland ein Fußballspiel besuchen kann. Das bedeutet: Um jeden Preis muss heute noch ein Ground gemacht werden – als Abschiedszeremonie. Das muss allerdings unter den denkbar schlechtesten Umständen in die Tat umgesetzt werden, die Pläne B, C und D müssen nach und nach gecancelt werden. Alles wird abgesagt. Doch da ist immer noch dieses eine Spiel in der Kreisliga A Minden, das weiterhin auf dem Radar sichtbar bleibt. Ist Rot-Weiß Rehme die letzte Front? Ein Glück, dass der Verein auf seiner Homepage sämtliche Verantwortliche samt Handynummer auflistet. Telefonisches Dauerfeuer bei allen Beteiligten bis hin zum Mitgliederverwalter, ehe nach einer halben Stunde endlich mal der sportliche Leiter den Hörer abnimmt. Der gibt grünes Licht: Es wird gespielt – vor Zuschauern. In die Karten spielt dabei, dass Rot-Weiß Rehme (ein Stadtteil von Bad Oeynhausen) nicht bei sich zu Hause auf der Rehmer Insel am Zusammenfluss von Weser und Werre spielt, sondern das Spiel ins Stadion an der Mindener Straße in Bad Oeynhausen verlegt wird. Den Ground macht man eigentlich mit dem Hausherren, denn der FC Bad Oeynhausen spielt zwei Etagen höher in der Landesliga, aber an diesem letzten Fußball-Tag ist das auch egal. Es kommt dabei zu einer echten Besonderheit, denn der FC Bad Oeynhausen besteht darauf, vor dem Spiel von Rot-Weiß Rehme noch sein Training zu absolvieren, weshalb das Spiel erst um 20.15 Uhr angepfiffen werden kann. Es könnte damit aufgrund dieser späten Anstoßzeit tatsächlich das letzte Fußballspiel in Deutschland vor der Corona-Pause sein. Angereist wird freilich feierlich mit dem Zug und schon am mondänen Bahnhof von Bad Oeynhausen (50.000 Einwohner) merkt man der Stadt ihren ganz besonderen Charakter an. Bad Oeynhausen ist nämlich eine sehr junge Stadt, die erst im 19. Jahrhundert gegründet wurde, nachdem man bei Bohrungen auf ihrem heutigen Gebiet Thermalquellen gefunden hatte. Die am Reißbrett geplante Kurstadt blieb zunächst ohne eigenen Namen und wurde nur – in Anlehnung an den nächstgelegen Ort Rehme – Kurbad bei Rehme oder Bad Rehme genannt. Erst 1848 erhielt sie den Namen Bad Oeynhausen, wobei lange Zeit noch der Name Bad Oeynhausen bei Rehme gebräuchlich war. Heute ist Rehme wie gesagt bloß noch ein Stadtteil von Bad Oeynhausen – und Rot-Weiß Rehme kann froh sein, beim Flutlichtspielen ins dortige Stadion ausweichen zu dürfen. Der hohe Stellenwert, den die Stadt einst besaß, lässt sich auch daran ablesen, dass die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Militärregierung zunächst hier ansiedelten, womit Bad Oeynhausen Hauptstadt der britischen Besatzungszone war. Nach wenigen Monaten wurde der Sitz jedoch aus strategischen Gründen nach Westberlin verlegt. Seitdem ist Ruhe eingekehrt. Die große Zeit des Kurtourismus ist vorbei, aber immerhin hat es Bad Oeynhausen geschafft, sich auf Herzpatienten zu spezialisieren und so die Kurtradition fortzusetzen, was den Slogan der Stadt erklärt – man nennt sich „herzerfrischend“. Der Glanz alter Tage ist nicht nur im Bahnhof zu spüren, sondern auch bei einem Spaziergang durch die überschaubare Innenstadt, wo noch so manches altehrwürdiges Gebäude steht. Ebenfalls auffallend ist die starke Präsenz von Arminia Bielefeld, die hier allein anhand von Aufklebern deutlich stärker ist als in Bielefeld selbst. Pünktlich erreichen wir dann das Stadion an der Mindener Straße, das inzwischen leider einen Sponsorennamen trägt. Damit nicht genug der schlechten Nachrichten, denn 2014 wurde das Stadion umgebaut. Oder besser gesagt: verschandelt. Kunstrasen statt Rasen, Rückbau der Stehstufen, jetzt gibt es nur noch zwei popelige Stufen. Man fragt sich manchmal wirklich, was im Kopf eines solchen Architekten vorgeht. Mit der Pünktlichkeit hält man es heute nicht ganz so genau, der FC Bad Oeynhausen möchte sein Training erst in aller Ruhe beenden, so dass sich die Anstoßzeit weiter nach hinten verschiebt. Stören kann das aber kaum jemanden, denn es sind trotz freiem Eintritt lediglich 20 Zuschauer da. Davon geschätzt 15 Hopper, teilweise sogar aus Köln, was stolze 220 Kilometer entfernt liegt. Man merkt: Es ist ein besonderes Datum. Für die letzte Möglichkeit, noch einmal Fußball schauen zu können, nimmt man wirklich alles in Kauf. Da quält man sich auch drei Stunden lang quer durch den Feierabendverkehr von NRW, um einen Neuntligisten auf einem praktisch ausbaulosen und dazu noch fremden Kunstrasenplatz zu sehen. Eine ganz seltsame Stimmung herrscht somit während der 90 Minuten. Ein bisschen so, als esse man das letzte Stück einer Tafel Schokolade, das man sich so richtig auf der Zunge zergehen lässt. So geht es dann auch nach Abpfiff nicht schnurstracks hinaus aus dem Stadion, denn so lange das Flutlicht noch brennt, wird noch so viel Atmosphäre eingesaugt wie möglich. Mach's gut, König Fußball. Wir hissen die weiße Fahne.