Sonntag, 10. November 2019, 17 Uhr
Jerez de la Frontera, Estadio Municipal de Chapín
Viel zu sehen gibt es in Jerez nicht, darum halten wir uns so lange wie möglich im wesentlich sehenswerteren Rota auf und legen auch dort unsere Mittagspause ein. Auf dem Weg zum Stadtderby in Sevilla liegt Jerez (210.000 Einwohner) aber geradezu ideal, zumal das Stadion dort eine echte Bombe ist. Jerez führt den Namenszusatz „de la Frontera“ (an der Grenze), womit allerdings nicht etwa das mehr als 100 Kilometer entfernte Gibraltar gemeint ist, sondern die Grenzlage zwischen christlicher und islamischer Welt. Al-Andalus, wie die iberische Halbinsel früher hieß, war von 711 bist 1492 islamisch – und damit übrigens zu einer Zeit, als das Christentum noch nicht einmal ganz Skandinavien erreicht hatte. So viel zu der idiotischen Behauptung, dass der Islam nicht zu Europa gehöre… Mit der Eroberung von Granada fiel am 2. Januar 1492 die letzte islamische Bastion auf der iberischen Halbinsel an Spanien. Wenige Monate später landete Kolumbus in Amerika, womit 1492 das ganze große Jahr Spaniens wurde. Die fast 800 Jahre Islam im Süden Spaniens kann man heute hingegen nicht nur in der Architektur erkennen, wozu vor allem die klobigen, quadratischen Kirchtürme zählen, die früher einmal Minarette von Moscheen waren. Auch viele Namen haben noch einen muslimischen Ursprung, etwa die Stadt Alicante oder eben Andalusien, das sich von Al-Andalus ableitet. Den Bogen könnte man sogar bis in die 4. Liga spannen, von denen Andalusien als flachenmäßig zweitgrößte autonome Gemeinschaft Spaniens gleich zwei Staffel besitzt: Occidental (West) und Oriental (Ost). Zu den beiden Ligen gehören auch die beiden afrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla, denn natürlich endete die spanische Eroberungslust 1492 nicht an der Straße von Gibraltar, sondern reichte bis in den Norden Afrikas hinein. Seine Kolonie Spanisch-Marokko konnte Spanien immerhin bis 1956 halten, musste sie dann aber an das ein Jahr zuvor von Frankreich unabhängig gewordene Marokko abdrücken – mit den beiden Ausnahmen Ceuta und Melilla, die heute als ganz normales spanisches Staatsgebiet betracht werden und deren Vereine somit auch ganz normal am spanischen Spielbetrieb teilnehmen. Ursprünglich war es sogar mal unser Plan, an diesem Wochenende aufgrund des ungünstigen spanischen Spielplans mit der Fähre zum Heimspiel des AD Ceuta zu fahren. Portugal empfanden wir dann aber doch als sinnvollere Alternative. Nun also Jerez, das sportlich nicht nur für seine Formel-1-Rennstrecke bekannt ist, sondern vor allem in Deutschland auch für den Xerez Club Deportivo, der von 2001 bis 2003 von Bernd Schuster trainiert wurde. Xerez war damals nach vielen Jahren in der 2. und 3. Liga gerade die Rückkehr in die Segunda División gesungen und mit Schuster, für den Xerez die erste seiner insgesamt fünf Trainerstationen in Spanien darstellte, hatte der Verein Großes vor. Der allererste Erstliga-Aufstieg der Vereinsgeschichte scheiterte unter Schuster zwar knapp, gelang dann aber 2008. Ein Jahr lang konnte sich Xerez in der Primera División, ehe der genauso schnelle Fall bis hinunter in die 5. Liga folgte. Ein spezieller Fall ist auch der Name des Vereins, der die Schreibweise der Stadt aus der islamischen Zeit benutzt. Bereits im 16. Jahrhundert änderte sich unter den Christen der Stadtname von Xerez zu Jerez, aber wie man sieht, hat das islamische Erbe auch an dieser Stelle überlebt. Schon daran lässt sich erkennen, dass der Xerez CD gewiss kein nationalistischer Verein ist, was auch für die Ultras gilt. Auf dem Weg zum Stadion fallen uns die vielen Graffiti der Kurve auf, die immer wieder einen Bezug zur Antifa oder ein antirassistisches Thema haben. Ebenso sind am und im Stadion viele Antifa-Schriftzüge zu erkennen. In der Kurve sind dann allerdings keine politischen Symbole ausfindig zu machen, die 1991 gegründeten Ultras Xerez (starke Abkürzung: UX) stehen mit etwa 50 Leuten hinter einer schlichten „Kolectivo Sur“-Fahne. Der Support ist für die überschaubare Menge an Ultras durchaus in Ordnung, wenngleich das in einer ansonsten nur spärlich gefüllten Kurve ein bisschen trist aussieht. Zu früheren Zeiten war die Kurve stellenweise rappelvoll und gab – wie man auf Fotos im Internet erkennen kann – echt ein gutes Bild ab. Jetzt in diesem für die 4. Liga völlig überdimensionierten Stadion sieht das ein bisschen anders aus. Trotzdem ist das Stadion eine Wucht, wobei die Palme in der Ecke dem Ganzen noch die Krone aufsetzen. Palmen im Stadion – da ist fast schon egal, wie der Rest aussieht. Genau in der Ecke, in der die Palme steht, ist auch ein B&B-Hotel eingezogen, dessen Terrasse ins Stadioninnere zeigt. Auch das ist ein echter Knaller, der umso skurriler wirkt, da dort gelangweilte Touristen ihren Kaffee trinken, von denen einige mit einem Viertligaspiel sichtlich nicht viel anfangen können. Pünktlich mit Abpfiff nehmen wir die Beine in die Hand, denn während die zweite Mannschaft von Betis in die Umkleidekabinen verschwindet und das Derby ihrer Mannschaft somit wohl nur im Fernsehen schauen kann, sind wir live und in Farbe im Estadio Benito Villamarín dabei.