VfB Fichte Bielefeld – Spvgg Erkenschwick 3:2

Deutschland, Westfalenliga – Staffel 1 (6. Liga)
Sonntag, 5. Dezember 2021, 14.30 Uhr
Bielefeld, Stadion Rußheide – Platz 2 

Ein Spiel, auf das ich mich schon lange gefreut habe. Denn mit VfB Fichte und der Spvgg Erkenschwick gibt es nur zwei Vereine mit Fanszene in der Staffel 1 der Westfalenliga – und die treffen heute aufeinander. Hinzu kommt, dass ich vor zwei Wochen beim Erkenschwicker Auswärtsspiel in Wattenscheid einen 71-jährigen Erkenschwicker Kult-Fan kennengelernt, ein paar Bierchen mit ihm getrunken und mich mit ihm für das heutige Spiel auf der Rußheide verabredet hatte. Die sportlichen Vorzeichen sind dabei klar: Erkenschwick vorne dabei, VfB Fichte mit zehn Niederlagen in Folge und abgeschlagen Tabellenletzter. Es wird ein Schlachtfest erwartet. Entsprechend niedrig ist die Zuschauerzahl: Nur knapp 100 kommen auf die Rußheide – und davon weit über die Hälfte aus dem Ruhrpott. Die alte Oma am Kassenhaus (eine echte Institution und eine der wenigen Personen im Verein, die noch den alten VfB Bielefeld erlebt hat) klatscht sogar mit den Händen zusammen, als endlich mal kein Erkenschwicker vor ihr steht. Zu allem Übel ist auch noch das Stadion gesperrt und es wird nur auf dem Nebenplatz gespielt. Damit hat die Sache doch deutlich weniger Charme. Aber immerhin: Beide Szenen sind anwesend und supporten recht regelmäßig. Ebenfalls eine Besonderheit: Heute hat ausnahmsweise mal der Bierstand geöffnet. Sonst muss man beim VfB-Fichte-Heimspielen immer bis zum Vereinsheim latschen, um ein Pilsken zu kaufen, aber der Bierdurst der Gäste ist nun mal auch in Ostwestfalen bekannt. Die werden ihrem Ruf auch vollauf gerecht – es wird gesoffen wie Schwein. Ein besoffener Erkenschwicker Opa muss kurz vor dem Anpfiff sogar von der Trainerbank entfernt werden, weil er da noch eine ganz eigene Ansprache an die Spieler hält – wohlgemerkt per Megafon aus nächster Nähe. Auch der organisierte Anhang der Gäste hält sich nicht mit Pöbeln zurück, macht sich (zurecht) über die geringe Zuschauerzahl gesanglich lustig und stimmt gleich mehrmals das bekannte „Ostwestfalen Idioten“ an. Gesagt sei: Dieses Lied ist hier auf der Rußheide vollkommen fehl am Platz, denn der bundesweit bekannte Gassenhauer stammt aus der Fanszene der Arminia, die damit einst den Bundesliga-Wettskandal ihres eigenen Vereins verarbeitet hatte. Dass halb Deutschland das Lied anstimmt, wenn gegen die Arminia gespielt wird, um sie zu bepöbeln, wird in der Arminia-Fanszene stets als belustigend empfunden, weil die Geschichte des Liedes offenbar nicht bekannt ist. Und in der Regel stimmen die Arminen in dem Fall auch selbst mit in den „Ostwestfalen Idioten“-Gesang ein, eben weil es ein Arminia-Lied ist. Das Lied aber gegen VfB Fichte zu singen, macht dann leider deutlich, dass die Erkenschwicker überhaupt keine Ahnung haben. Der ansonsten immer sehr relaxte und dem linken Spektrum zugehörige Anhang von VfB Fichte, der heute mit etwa 20 Mann auf der gegenüberliegenden Geraden steht, kennt dagegen die Geschichte des Liedes ganz genau und antwortet mit Anti-Arminia-Gesängen. Es ist ja kein Geheimnis, dass sich die Arminia und der alte VfB (ebenso wie die frühere Spvgg Fichte) Spinne Feind waren, weil sie für zwei völlig unterschiedliche Pole der Stadt standen – die blaue Arminia für das Bürgertum, der rote VfB für die Arbeiterklasse. Und auch wenn spätestens seit der 1997 vollzogenen Fusion von VfB und Fichte praktisch nichts mehr vom alten Anhang übrig geblieben ist, die heutige Fanszene vom VfB Fichte also eine grundsätzlich neue ist, hat diese Tradition bzw. Antipathie von VfB und Fichte überlebt. Dass aber auf der Rußheide ganz offen gegen die Arminia gesungen wird, hatte ich bislang noch nicht gehört. Es entwickelt sich dann auf beiden Seiten kein lauter, kein sonderlich kreativer, aber doch unterhaltsamer Singsang. Seltsam finde ich nur, dass in der Halbzeitpause zwei kurdische Fahnen bei VfB Fichte aufgehängt werden, darunter eine der YPG. Hintergrund: Bielefeld gilt ein wenig als kurdische Hauptstadt Deutschlands mit einer überproportional großen Zahl von Kurden. Nur ein paar Hundert Meter von der Rußheide entfernt feiern an der Bielefelder Radrennbahn jedes Jahr 10.000 Jesiden das kurdische Neujahrsfest. Die politisch links stehende VfB-Fichte-Fanszene solidarisiert sich immer wieder mit ihnen. In der zweiten Halbzeit wird es etwas ruppiger, denn VfB Fichte führt völlig überraschend und spielt schon früh auf Zeit. Der Schiedsrichter ist auch nicht der Allerbeste, erkennt sogar ein Erkenschwicker Tor ab, weshalb der Gästeanhang tobt. Es wird sogar ein Gästefan vom Linienrichter des Platzes verwiesen. Ausnahmsweise ist heute ein Ordnungsdienst auf der Rußheide im Einsatz, die immer wieder einschreiten muss. Da die Gäste in der Schlussphase den Anschlusstreffer zum 3:2 machen und der Schiedsrichter unfassbare 7 Minuten Nachspielzeit gibt, wird es noch mal richtig spannend. Auch im vorherigen Heimspiel hatte VfB Fichte einen 2:0-Vorsprung gegen den Tabellenzweiten noch verspielt. Tatsächlich kommt dann auch ein Erkenschwicker Spieler frei vorm Tor an den Ball, schießt aber daneben. VfB Fichte gewinnt! Helle Freude bei den Hausherren, sowohl Verein als auch Trainer geben im Vereinsheim Nadelholz Freibier aus. Totale Entrüstung bei den Ruhrpottlern. Der Schiedsrichter muss von den Ordnern in die Kabine gebracht werden. Es fliegen sogar Gegenstände. Das Spiel hat in Summe dann doch das gehalten, was es versprochen hat, auch wenn das im Stadion noch mehr Spaß gemacht hätte.