Deutschland, Westfalenliga – Staffel 2 (6.Liga)
Freitag, 6. Mai 2022, 19 Uhr
Herne, Doktor-Jovanovic-Glück-Auf-Stadion
Dann wollen wir uns in dieser Saison mal ein zweites Mal Kevin Großkreutz anschauen. Aber im Ernst: Dass der Döner-Werfer mit seinem Plastikverein heute auf dem Feld steht, ist reiner Zufall. Denn das Hauptaugenmerk gilt dem Glück-Auf-Stadion in Sodingen – und Großkreutz nehmen wir halt so mit. Während bei den Heimspielen des TuS Bövinghausen großer Hype mit annähernd vierstelligen Zuschauerzahlen herrscht, ist davon bei den Auswärtsspielen nicht viel zu merken. Beiläufig wird in Sodingen zwar auch mal über den Weltmeister (ohne Einsatz) gesprochen, aber ansonsten ist das ein ganz normales Spiel in der Westfalenliga vor offiziell 148 Zuschauern. Sehr angenehm, denn so können wir uns voll und ganz auf den SV Sodingen konzentrieren – und der hat das verdient. Er gilt als typischer Bergarbeiterverein, der nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Durchbruch hatte. 1949 stieg der SV Sodingen in die Landesliga auf, die damals höchste Amateurliga in Westfalen war. Nur ein Jahr später erfolgte der Aufstieg in die 2.Liga West, womit man sozusagen zum Profiverein wurde, auch wenn das zu damaliger Zeit etwas ganz anderes bedeutete als heute. Eng verbunden war der SV Sodingen mit der Zeche Mont Cenis, bei der damals alle Spieler arbeiteten. „Komet des Westens“ wurde der SV Sodingen damals genannt, dem man Großes zutraute – und dem Großes gelang. Denn 1952 gelang das Wunder und der Komet stieg in die Oberliga auf, die die 1.Liga war. Ein neues Stadion musste her und das wurde auf dem Gelände der Zeche Mont Cenis gebaut. Der passende Name: Glück-Auf-Kampfbahn. Damit hieß das Stadion des SV Sodingen genau wie das des FC Schalke 04. Wohl kein Zufall, denn der kometenhafte Aufstieg der Sodinger nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit dem der Schalker nach dem Ersten Weltkrieg verglichen. Es folgte die legendäre Saison 1954/55, in der der SV Sodingen in der Oberliga West den zweiten Platz hinter dem späteren deutschen Meister Rot-Weiß Essen belegte und sich somit für die Endrunde um die deutsche Meisterschaft qualifizierte. Der SV Sodingen landete in einer Gruppe mit dem Hamburger SV, dem 1.FC Kaiserslautern und Viktoria Berlin. Er schlug sich mehr als achtbar, denn in den sechs Gruppenspielen kassierte der SV Sodingen nur eine Niederlage. Zwei Siege und drei Unentschieden (davon zweimal ein 2:2 gegen den 1.FC Kaiserslautern mit seinen frischgebackenen Weltmeistern von Bern) brachten jedoch zwei Punkte zu wenig, um sich für das Finale zu qualifizieren. Das gelang dem 1.FC Kaiserslautern, der dann Rot-Weiß Essen in Hannover mit 3:4 unterlag. In der nachfolgenden Saison wurde übrigens der Europapokal der Landesmeister eingeführt, womit RWE der erste deutsche Europapokal-Teilnehmer war. Es hätte aber durchaus auch der SV Sodingen sein können. Der hatte sich trotzdem international einen Ruf erarbeitet, denn im Mai 1955 bestritt der Everton FC ein Freundschaftsspiel gegen ihn. Damals ein Ritterschlag. Außerdem war der „Komet des Westens“ der erste westdeutsche Verein, der zu Freundschaftsspielen in die DDR eingeladen wurde. Eine ganz große Empfehlung an der Stelle, ins Vereinsheim des SV Sodingen zu gehen, in dem viele Erinnerungsstücke an diese große Zeit ausgestellt sind. Neben originalen Wimpeln sind vor allem die Fotos aus jener Zeit von der alten Glück-Auf-Kampfbahn mit der Zeche Mont Cenis im Hintergrund sehenswert. Mehr Ruhrpott geht nicht. Unfassbar nett sind an diesem Abend auch die Leute vom SV Sodingen. Wir werden sofort angesprochen, ob wir Groundhopper sind, bekommen eine Anstecknadel des Vereins geschenkt und werden bestimmt zehn Minuten lang herumgeführt. Ein nur wahnsinnig interessant, den alten Geschichten zu lauschen. Man merkt, dass der SV Sodingen sehr stolz auf seine Geschichte ist – und das kann er ja auch mit Fug und Recht. Leider blieb die Saison 1954/55 ein One-Hit-Wonder. Bis 1962 (mit Ausnahme der Saison 1959/60) konnte sich der „Komet des Westens“ in der Oberliga halten, dann landete er wieder auf der Erde. Nach dem Abstieg in die 2.Liga kam die Gründung der Bundesliga 1963 zum denkbar ungünstigen Zeitpunkt, denn die Qualifikation für die Regionalliga als neue 2.Liga schaffte er nicht und stieg somit in die 3.Liga ab. Es kam noch dicker, denn ein weiteres Jahr später folgte der Abstieg in die 4.Liga. Mit der neu aufgekommenen Kommerzialisierung des deutschen Fußballs kam der SV Sodingen nicht klar, zumal der Bergbau im Ruhrgebiet und damit auch die Zeche Mont Cenis als Geldgeber selbst in der Krise steckten. In Herne hatte dem Bergarbeiterverein inzwischen die bürgerliche Westfalia den Rang abgelaufen, die mit finanzieller Hilfe von Erhard Goldbach (der „Ölkönig von Wanne“) und seiner Tankstellen-Kette Goldin den Sprung in die 2.Bundesliga schaffte – und nach der Festnahme von Goldbach wegen Steuerhinterziehung wieder abstürzte. Der SV Sodingen musste dagegen Mitte der 70er sogar seine Glück-Auf-Kampfbahn auf dem Zechengelände aufgeben und zog in das neue Glück-Auf-Stadion, in dem er noch heute spielt. Inzwischen trägt es den Namen des Zahnarztes Veselko Jovanovic, der lange Jahre Vorsitzender des Vereins war. Einen Bezug zum Verein hat seit 2012 auch die Straße am Stadion, die nach Hännes Adamik benannt ist. Er war der Spielertrainer des „Komet des Westens“. Alles in allem wirklich ein fantastischer Abend beim SV Sodingen, mit total sympathischen Leuten und jeder Menge deutscher Fußballgeschichte. Da braucht man keinen Kevin Großkreutz. Sehenswert ist dann auch die Rückfahrt mit dem Zug zurück nach Bielefeld, denn die Arminia hat zeitgleich beim VfL Bochum gespielt. Während wir noch gemütlich zwei Bierchen in der Hopfendolde am Bochumer Hauptbahnhof trinken können, kesselt auf der anderen Straßenseite ein riesiges Polizeiaufgebot fast eine Stunde lang alle Bielefelder Zugfahrer ein – ohne die Möglichkeit, sich irgendwie verpflegen zu können. Glücklicherweise leidet die Laune der Arminen nicht allzu sehr darunter, so dass es im Zug noch einiges zum Lachen und zum Staunen gibt. Zugfahrten mit besoffenen Fußballfans sind schließlich immer die Besten.