Ungarn, Nemzeti Bajnokság II (2. Liga)
Montag, 18. Oktober 2021, 20 Uhr
Budapest, Illovszky Rudolf Stadion
Am frühen Nachmittag verlassen wir Eger wieder mit dem Zug und fahren zurück nach Budapest. Dort haben wir unsere Unterkunft diesmal im jüdischen Viertel im zentral gelegenen 7. Bezirk (Erzsébetváros; auf Deutsch: Elisabethstadt), das ebenfalls einen genaueren Blick wert ist. Budapest war vor dem Zweiten Weltkrieg eine jüdische Hochburg, die mit der Erzsébetváros ein praktisch nur von Juden bewohntes Stadtviertel hatte. Unter anderem wurde hier Theodor Herzl geboren, der Vater des Zionismus. Vom Holocaust wurde leider auch Budapest nicht verschont und die Erzsébetváros wurde von den Nazis zum Ghetto gemacht, in das 200.000 Juden eingepfercht wurden, die dort auf ihre Deportation warten mussten. Während anderswo in Europa das jüdische Leben nach dem Krieg völlig im Erliegen kam, kehrte es in der Erzsébetváros aber wieder ein. Natürlich längst nicht in der Dimension wie vor dem Krieg, aber ich kenne keinen Ort in Europa, an dem jüdischen Leben mitten in einer Millionenstadt so sichtbar ist wie in Budapest – vor allem anhand der Synagogen, die in der Erzsébetváros noch stehen. Prunkstück ist die Nagy Zsinagóga (Große Synagoge) in der Dohány utca (Tabakgasse), auch oft Dohany-Synagoge oder Tabaktempel genannt. Mit 3000 Sitzplätzen ist sie die größte Synagoge Europas und die zweitgrößte der Welt. Der Platz vor ihr ist nach Theodor Herzl benannt, dessen Elternhaus sich nur wenige Schritte von der Großen Synagoge entfernt befand. Ebenfalls beeindruckend ist die Rumbach utcai zsinagóga in der Rumbach utca, die mitten zwischen den Altbaufassaden steht. Aber es sind eben nicht nur die Synagogen, die den 7. Bezirk so spannend machen, sondern das jüdische Alltagsleben – mit koscheren Supermärkten und Restaurants, einem eigenen jüdischen Gymnasium und natürlich Menschen, die etwa mit einer Kippa auf dem Kopf ihre Identität zeigen. Schön, dass das möglich ist! Dennoch sind die Sicherheitsvorkehrungen unübersehbar, die insbesondere rund um die Große Synagoge getroffen wurden. Das sollte einen allerdings nicht abschrecken, zumindest mal einen Spaziergang durch die Erzsébetváros zu machen, die auch abgesehen von diesem speziellen Hintergrund schön anzusehen ist – mit Altbauten und Hinterhöfen, in denen die Zeit einfach stehengeblieben ist. Das gilt leider nicht für die Fáy utca im 13. Bezirk (Angyalföld; auf Deutsch: Engelfeld), in der das Illovszky Rudolf Stadion des Vasas SC spielt, der 1911 als Sport-Club der Eisen- und Stahlarbeiter gegründet wurde. Sechsmal wurde er bereits ungarischer Meister (zuletzt 1977) sowie viermal Pokalsieger. Fanszenemäßig würde ich Vasas in Budapest auf Platz 4 hinter Ferencváros, Újpest und Kispest setzen, auch wenn die Metaller aktuell nur in der 2.Liga spielen, was der Kulisse natürlich nicht zuträglich ist. Das Illovszky Rudolf Stadion war einst einer meiner ersten drei Grounds in Ungarn und damit einer meiner ersten Grounds überhaupt, was dann doch für eine gewisse emotionale Bindung sorgt. Leider ist von der Bruchbude, die das Stadion um die Jahrtausendwende war, nichts mehr übrig geblieben, denn 2019 ist hier ein kompletter Neubau hochgezogen worden, der rein gar nichts mehr mit dem alten Ding zu tun hat. Es hat zwar Charme, wie die Fassade des Stadions bei Flutlichtspielen in den Vereinsfarben Blau und Rot angestrahlt wird, aber der alte Zustand wäre mir schon lieber gewesen. Immerhin gibt es im Stadionumfeld noch ein paar Relikte wie ein altes Kassenhäuschen sowie Zäune in den Vereinsfarben, durch die sich aber immer mehr der Rost frisst. Eine Sache ist hier allerdings sehr gut umgesetzt worden und das habe ich so in noch keinem Stadion gesehen: Unterhalb der Tribünen wurden zahlreiche Metallwände wie Buchseiten aufgestellt, auf denen die Vereinschronik eingraviert ist. Stark! Geboten wird am heutigen Montagabend ein Stadtderby. Zu Gast ist die Turn- und Fechtvereinigung aus dem 3. Bezirk (Óbuda; zu Deutsch: Altbuda), die die Zahl des Bezirks statt des Namens im Vereinsnamen trägt. Das ist dann selbst für Budapest ungewöhnlich, aber zeigt wie gesagt, welch wichtigen Stellenwerk die Bezirksnummern in Budapest spielen. Auch bei der Hauptgruppe von Vasas – der Armata – ist die XIII. für den 13. Bezirk zentral auf der Zaunfahne abgebildet. Etwa 40 Leute stehen im Gästeblock, ebenso viele Leute bilden den Stimmungskern bei Vasas, also recht ausgeglichen. Die deutlich bessere Stimmung herrscht dennoch bei Vasas, schon allein weil sich im Gästeblock üblicherweise nicht jeder am Support beteiligt. Nach dem Spiel gönnen wir uns noch etwas nächtliches Sightseeing in Budapest mit dem Hősök tere (Heldenplatz) und einer Fahrt mit der Metró-Linie 1, die die zweitälteste U-Bahn Europas ist. Sowohl Hősök tere als auch die Linie 1 wurden 1896 zum 1000-jährigen Bestehen Ungarns eingeweiht, weshalb man die Linie 1 auch Millennium-Linie nennt. Viele ihrer Haltestellen sind noch im (restaurierten) Originalzustand, die Wagen leider nicht mehr.
Am nächsten Morgen geht es weiter mit dem Touri-Programm in Budapest. Nach einer Stärkung in der Nagy Vásárcsarnok (Große Markthalle) nehmen wir uns den Memento Park oben in Buda vor. In den will ich schon seit Jahren, hatte es bislang aber nie zeitlich geschafft. Der Memento Park – gut mit dem Linienbus vom Bahnhof Kelenföld aus erreichbar – ist quasi ein Friedhof für all die kommunistischen Statuen und Gedenktafeln, die bis zur Wende irgendwo in Budapest standen. Bevor der Volkszorn sie zerstören konnte, brachte man sie in Sicherheit und stellte sie 1993 oben in der Abgeschiedenheit Budas wieder auf. Eine schöne Reise in die Vergangenheit, auch wenn man anhand der niedergelegten Kränze mit rotem Banner unschwer erkennen kann, dass es doch noch einige Leute gibt, die mit der Vergangenheit nicht abgeschlossen haben. So steht vor uns steht an der Kasse ein Ostdeutscher, der vor lauter Ostalgie fast heult und den halben Shop leerkauft. Bisschen beängstigend. Besonders angepriesen werden im Memento Park die sogenannten Stiefel Stalins, die ein Überbleibsel der riesigen Budapester Stalin-Statue sein sollen, die 1951 nachträglich zum 70. Geburtstag des sowjetischen Diktators aufgestellt wurde. „Führer, Lehrer und bester Freund der Ungarn“ war auf ihr zu lesen. Beim ungarischen Volksaufstand 1956 gegen die sowjetischen Besatzer und die Kommunistische Partei Ungarns wurde die Statue zerstört. Die Demonstranten legten dabei eine unglaubliche Akribie an den Tag und schafften mit Lastwagen Schweißgeräte und Sauerstoffflaschen heran, um das riesige Bronzeteil zu zerlegen. Allerdings sind die im Memento Park ausgestellten Stiefel von Stalins Statue kein Überbleibsel, sondern nur eine Nachbildung. Nach so viel Geschichte landen wir danach in der wohl geilsten Kneipe Budapests: das Két Megálló Presszó – die „Kneipe an den zwei Gleisen“ in Budafok. Bei dem Gebäude handelt es sich um einen früheren kleinen Straßenbahn-Bahnhof an der Kreuzung von zwei Strecken, der mit viel Liebe umgebaut wurde. Viel Platz bieten der ehemalige Warte- und Schalterraum zwar nicht, aber das macht das Ding umso gemütlicher. Am Abend wollen wir dann eigentlich etwas Neues ausprobieren und uns ein Spiel der Alten Herren von Ferencváros anschauen. Ansonsten ist fußballmäßig leider nichts los. Der Weg war allerdings umsonst, denn in Ungarn spielen die Alten Herren nur über den halben Platz. Das war mir nicht bekannt, ist nicht zählbar und können wir uns somit sparen. Dann lieber noch mal hinauf in die Budaer Altstadt und zur Fischerbastei, um entspannt den Abend mit tollem Ausblick zu genießen. Somit bleibt auch noch genügend Zeit, um zu später Stunde eine echte Institution von Budapest anzusteuern: Nagyi Palacsintázója. Der Laden am Batthyány tér im 1. Bezirk nahe des Donauufers serviert Palatschinken in allen möglichen Variationen, süß und herzhaft – und zwar rund um die Uhr. Öffnungszeiten: 0 bis 24 Uhr. Ehe wir am Dienstagmorgen Budapest wieder verlassen, wartet vor der Abfahrt noch eine Spezialaufgabe auf mich, denn ich habe noch ein paar alte Forint-Scheine in meiner Tasche, die nicht mehr angenommen werden. In so einem Fall sagt man ja immer, dass man die noch bei der Nationalbank umtauschen könne, aber wer fährt schon wirklich zu einer Nationalbank und macht das? Da sich die Nationalbank Ungarns aber mitten in der Stadt befindet und sogar fußläufig von unserer Unterkunft aus erreichbar ist, versuche ich mal mein Glück. Und tatsächlich: Am Hintereingang gibt es einen kleinen Raum, in dem durchgängig zwei Damen am Schalter sitzen und däumchendrehend darauf warten, dass alle Schaltjahr mal einer reinkommt und alte Scheine umtauscht. Was für ein Job! Ich rechne eigentlich mit einem riesigen bürokratischen Aufwand, dem Ausfüllen von Formularen, dem intensiven Prüfen ob der Echtheit der Scheine. Doch tatsächlich ist die Sache nach zehn Sekunden erledigt: Alte Scheine rüberreichen, neue Scheine einstecken, fertig. Nicht einmal eine Unterschrift muss geleistet werden. Somit bleibt sogar noch Zeit, zum Abschied von Budapest mal wieder eine Fahrt mit der Straßenbahn-Linie 2 zu unternehmen, die als eine der schönsten Linien der Welt gilt. Die führt auf Pester Seite immer entlang der Donau und wird daher auch Sightseeing-Linie genannt, wenngleich für sie kein spezieller Tarif fällig wird. Gelunger Abschluss von gelungenen Tagen in Budapest!